13 Am Grab der Eltern

Am nächsten Morgen fuhren Topa und Paola mit Alfsgir zum Grab von Maj-Lis. Paola hatte noch in der Nacht im Tagebuch ihrer Mutter gelesen. Der letzte Eintrag war vom Tag ihrer Abreise. Eirik hatte ihr in der Nacht davor eine Halskette mit einem Herz aus Bernstein geschenkt. Maj-Lis hatte geschworen, die Kette immer zu tragen. Jeder der drei war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, so redeten sie nur das notwendigste miteinander. Nach zwei Tagen erreichten sie den Wald. Je tiefer sie in den Wald fuhren, um so kälter und dunkler wurde es.

„So tief im Wald liegt fast das ganze Jahr über der Schnee und der Boden ist gefroren“, erklärte Alfsgir.

„Wie konntet ihr unsere Mutter dann begraben?“ wollte Topa wissen.

„Das Feuer hatte den Boden ein wenig aufgetaut. Dort haben wir eine kleine Grube gegraben und eure Mutter hineingelegt, bevor wir den traditionellen Steinhügel darüber errichtet haben.“

„Dann liegt sie seit dem in einem eisigen Grab?“ fragte Paola.

Die Antwort wollte niemand aussprechen.

„Dort vorne ist es“, sagte Alfsgir uns stoppte den Schlitten.

Die beiden Geschwister stiegen ab und näherten sich Hand in Hand einem Schneehügel, unter dem ein paar große Steine hervorschauten. Dort angekommen blieben sie eine ganze Weile schweigend stehen.

„Mama“, sagte Paola mit leiser Stimme. „Hallo Mama, wir sind es, Topa und Paola.“

„Ich habe die Tagebücher und alle Briefe heute Nacht gelesen. Sie haben sich so sehr geliebt, und dich auch. Sie wollten für immer zusammenbleiben“, sagte Paola zu Topa.

Topa drehte sich um und winkte Alfsgir, näher zu kommen.

„Wir möchten sie neben Papa begraben. Meinst du, wir können sie ausgraben?“

Alfsgir überlegte kurz, dann sagte er:

„Der Boden ist gefroren. Auch wenn sie nicht tief vergraben ist, möchte ich euch keine Hoffnung machen.“

„Bitte“, sagte Paola. „Bitte, sie dürfen nicht länger getrennt sein.“

Die beiden Männer legten ihre Jacken ab und fingen an, den Steinhügel abzutragen. Darunter kam eine Schichte gefrorener Tannenzweige zum Vorschein. Paola stieß einen leisen Schrei aus, als sie die letzten Äste entfernt hatten. Darunter lag eine in mehrere Rentierfelle gewickelte Frau. Vorsichtig versuchten Topa und Alfsgir, Maj-Lis aus ihrem Grab zu heben. Schließlich wickelten sie die äußerste Fellschicht ab und konnten die restlichen Felle mit Maj-Lis Leiche herausnehmen und zum Schlitten bringen. Paola kniete am Rand des Grabes, als würde sie etwas suchen. Nach einer Weile ging auch sie zum Schlitten und machten sich auf den Rückweg. Nach einer weiteren Nacht im Freien erreichten sie gegen Mittag die Herberge. Dort luden sie Fackeln, Schaufeln und einen schweren Pickel ein und machten sich nach dem Mittagessen auf dem Weg zu Eiriks Grab. Alfsgir und Topa brauchten bis zum Einbruch der Dunkelheit, ehe sie ein flaches Grab in den gefrorenen Boden geschlagen hatten. Paola stand die ganze Zeit über neben ihrer Mutter. Dann betteten sie Maj-Lis neben ihren Mann und schichteten im Schein der Fackeln die Steine so, dass sie einen Grabhügel bildeten.

Als sie die Herberge erreichten, war es schon spät. Am nächsten Morgen verabschiedeten sich die Geschwister und traten die Heimreise an. Während der Fahrt las Paola Topa die Briefe und Tagebücher ihrer Eltern vor. Abends am Feuer fragte Topa:

„Was hast du am Grab unserer Mutter gesucht?“

„Ich hatte gehofft, noch irgendein Andenken an sie zu finden. Vielleicht sogar die Kette. Sie ist außer uns beiden das einzige, was von ihrer Liebe geblieben ist.“

„Sie sind jetzt wieder zusammen“, antwortete Topa. „Wir haben die Kiste, die Briefe, die Tagebücher und seine Pfeife mit Tabaksbeutel. Und wir konnten uns von ihnen verabschieden. Das ist mehr, als ich mir je vorstellen konnte.“

„Mir geht es genauso“, stimmte Paola zu.

Als sie im Weihnachtsdorf vor Paolas Stube anhielten, verließ gerade die Rektorin die Hütte. Sie tat so, als ob sie die beiden nicht gesehen hätte und marschierte in die entgegengesetzte Richtung davon.

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