10/2017 Schlimmer geht immer

Als Topa am nächsten morgen erwachte, war die Wirtsstube verlassen. Ihm war kalt und die Luft roch nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch. Er stand auf und wickelte sich die Decke um die Schultern. Müde schleppte er sich mit steifen Gliedern zum Ofen, um das Feuer wieder zu entfachen. Doch die Glut war längst erloschen.

Seltsam, dachte Topa bei sich. Normalerweise sorgt der Wirt dafür, dass das Feuer nie ausging und immer Glut im Ofen war. Er sah sich um. Auf dem Tresen und an dem Tisch an dem die Männer gesessen hatten standen noch Teller mit Essensresten und Bierkrüge. Auch der Tisch an dem er gegessen hatte war nicht abgeräumt.

Topa ging zu der Tür die zu den Stuben der Wirtsfamilie führte, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Im Haus war es merkwürdig still. Bei seiner Ankunft hatte er nur den Wirt angetroffen. Das von dessen Familie oder dem Gesinde niemand zusehen war, war so spät am Abend nicht verwunderlich. Lebte der Wirt etwa alleine? Doch wie sollte er einen so großen Hof mit Wirtsstube alleine bewirtschaften?

Er ging zu der Tür die zu der einzigen Gästestube führte. Nachdem er auch hier nichts hören konnte, öffnete er langsam die Tür und blickte durch einen Spalt hinein. Die Stube war leer. Kein Tisch, keine Stühle, nicht mal ein Nachtlager aus Stroh. Und erst recht nicht die beiden Männer die er darin vermutet hatte.

Langsam dämmerte ihm, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er beschloss, die Stuben der Wirtsfamilie zu durchsuchen. Doch auch die waren absolut leer. Keine Möbel, keine Spur von Menschen oder Leben. Er rannte durch die Wirtsstube ins Freie. Auch hier nichts zu sehen. Sein Schlitten? Wo war sein Schlitten? Er hatte ihn gestern vor dem Eingang stehen lassen. Doch jetzt war er verschwunden.

In Panik rannte er zur Rückseite des Hofes. Dort waren zwei kleinere Schuppen. Er öffnete die erste – leer. Ebenso die zweite. Etwas kaltes hatte seine Eingeweide fest im Griff, als ihm klar wurde, was hier geschehen war.

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Fynn stand wieder auf der Brücke vor Ogre. Doch diesmal hatte er keine Waffen bei sich. Und seine Feinde waren nicht seine Feinde. Da standen Topa, Paola, Boje und Vendela, Lele und Oma Lerke. Und auch sie hatten keine Waffen. Sie standen mit dem Rücken zu ihm und blickten hinunter in den Fluss.

Fynn wollte zum Brückengeländer gehen und nachsehen, was da in dem Fluss war. Doch er konnte sich nicht bewegen. Seine Beine bewegten sich nicht. Er wollte Paolas Namen rufen, doch aus seinem Mund kam kein Laut.

Jetzt sah er, dass sie Blumen in den Fluss warfen. Er sah, dass seine Freunde miteinander sprachen, konnte aber nicht hören, was sie sagten.

Einer nach dem anderen drehte sich um und ging an ihm vorbei in die Stadt. Sie weinten. Doch keiner sah ihn. Sie gingen direkt auf ihn zu und sahen ihn nicht. Sie mussten ihn doch sehen. Er versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. Irgendetwas lähmte ihn. Als letztes stand nur noch Paola an der Brüstung. Sie drehte sich langsam um und Fynn erschrak. War das wirklich Paola? Ihr Gesicht war eingefallen, ihre Augen saßen tief in den Augenhöhlen. Ihr sonst glänzend schwarzes Haar war unordentlich und schmutzig. Paola war sah alt aus. Langsam schlurfte sie an ihm vorbei. Er konnte einen letzten Blick in ihr Gesicht werfen. Ihre Augen waren rot vom Weinen, doch ihr liefen keine Tränen mehr über die Wangen.

Er blickte über das Geländer auf den Fluss und sah ein Floß stromabwärts treiben. Auf dem Floß lag er selbst.

Da wusste er, dass er tot war.

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