„Kindchen bitte, komm zum Punkt, dein Vater wird bald hier sein“ trieb die Rektorin sie zur Eile.
Zuerst erzählte Lele von dem Gespräch mit Oma Lerke. Dann kam sie auf den Kern zu sprechen.
„Du hast immer versucht, mich zu beschützen. Nun bin ich alt genug, um meine eigenen Erfahrungen zu machen. Und ich habe Freunde gefunden, die mir dabei helfen. Das Leben verläuft nicht nach einem festen Plan. Dinge ändern sich. Ich brauche jetzt nicht mehr deinen Schutz. Du hast mir alles beigebracht, was dir wichtig ist. Den Rest, muss ich selber herausfinden. Meine Freunde, Oma Lerke, Topa, sie alle unterstützen mich dabei. Ich würde mich freuen, wenn du auch zu dem Kreis gehörst und mich ermutigst und zu mir stehst, wenn mal was schief geht.“
„Mama?“ fragt Lele nach einer Weile.
„Äh, also na gut. Wie du meinst. Es ist nicht immer leicht, eine Mutter zu sein. Vielleicht wird es wirklich Zeit, dass du flügge wirst, wenn du weißt was ich meine. Schön, dass wir das geklärt haben. Aber ich muss jetzt wirklich los und deinen Vater holen. Bring mich bloß nicht in eine unmögliche Situation, wie dein Vater das immer tut.“ Die letzten Sätze sprach sie wieder in ihrem gewohnt schnellen Tempo und schob dabei Lele zur Tür.
Draußen blieb Lele einen Moment stehen, zwickte sich in die Nase, ob das gerade wirklich passiert ist. Das lief doch ganz gut, dachte Lele indessen erstaunt. Zufrieden, dass sie endlich einen Weg gefunden hatte, wie ihre Mutter ihr zuhörte und das was sie sagte zu akzeptieren schien. Auf dem Weg zu Oma Lerke wiederholte Lele das Gespräch immer wieder. Lele stürmte in die Arme ihrer Oma und plapperte drauf los, wie toll das gelaufen sei, wie überzeugend sie gewesen war und das sie dadurch ihre Mutter beeindruckt hätte. Später hatten auch Boje und Vendela alle Mühe, einen Sinn in dem Wortschwall zu erkennen, mit dem Lele sie überfiel.
Was Lele nicht bemerkt hatte, war, dass ihre Mutter die Vorhänge zugezogen hatte. Dann trat sie mit voller Wucht gegen die Wand. Nun humpelte sie durch die Wohnstube und führte Selbstgespräche. ‚Diese undankbare Göre. Da schuftet man sein ganzes Leben für sie, und kein Wort des Dankes? Oh, sie braucht meinen Schutz jetzt nicht mehr. Pah. Wer sind schon diese Freunde. Ein Nikolaus, ein Bauernpärchen und diese Ausländerin. Und die eigene Mutter fällt mir jetzt auch noch in den Rücken. Schon als Kind hat sie meine Leistungen nicht verstanden und mit ihrem Gequatsche jetzt auch noch meine Tochter vergiftet. Wahrscheinlich hat sie Lele diesen Mist erzählt. Nicht der kleinste Riss war in ihren Worten, durch den Angst sich hätte zeigen können. Alle haben Respekt vor mir. Mir gegenüber keine Angst zu zeigen ist respektlos. Nein, mich legt ihr damit nicht aufs Kreuz. Ich hole mir den Respekt, der mir, mir alleine, zusteht.‘ Schließlich setzte sie sich in einen Sessel und dachte nach. Als sie ihr endlich klar war, wie sie Respekt bekommen würde, war auch ihre Laune wieder besser.
—–
Je näher Topa und Lele der Herberge kamen, umso mehr war jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
„Ich bin schrecklich nervös“, gestand Paola.
„Ich auch“, sagte Topa. „Wir dürfen nicht zu viel erwarten. Vielleicht erinnern sich die alten Leute nicht mehr an alles. Dort hinter dem Hügel müsste es sein.“
Paola griff nach Topas Hand, als sie die Herberge erblickte. Sie konnte keine weiteren Schlitten erkennen und auch sonst schien der kleine Hof verlassen. Nur am Rauch aus dem Schornstein war zu erkennen, dass die jemand zuhause waren.
„Hallo“, sagte Paola, als sie die Gaststube betraten. Hinter der Theke stand ein Mann, der zwar älter war als sie, aber zu jung, um der Gastwirt zu sein, der ihren Vater gefunden hatte. Enttäuschung machte sich in ihr breit.
„Ich heiße Paola. Das ist mein Bruder Topa. Wir …“.
„Herzlich Willkommen. Ich weiß wer ihr seit. Meine Eltern haben mir von deinem Brief erzählt. Ich bin Alfsgir. Kommt mit, ich bringe euch zu ihnen.“