Lele wartete nun schon eine gefühlte Ewigkeit. Ihr Gefühl, dass sie sie nur mitgenommen hatten, weil sie Topas Freundin war, wurde dadurch nur stärker. Heute Abend würde sie mit Fynn reden. Er musste ihr die Rolle geben, die ihr zustand. Als das Warten unerträglich wurde, beschloss sie, den alten Hof von Opa Kester zu erkunden. Sie band die Rentiere an einem Baum fest und ging auf den Hof zu. Um nicht aufzufallen, hatte sie sich einen Rucksack von der Ladefläche über die Schultern gehängt und wahllos ein paar Gegenstände hineingepackt. Mit etwas Glück würde sie als Wanderin durchgehen, sollte sie jemandem begegnen.
Der Hof schien verlassen zu sein. Sie klopfte an die Tür, schaute durch ein paar Fenster, doch niemand zu sehen. Als sie einen der Schuppen betrat, schien der Hof doch nicht so verlassen zu sein. Im Gegenteil. Der Schuppen war bis unters Dach mit allerlei Kisten und Waren voll gestellt. Das die Waren in festes Tuch eingeschlagen waren, legte die Vermutung nahe, dass sie für längere Zeit gelagert werden sollten. Lele versuchte eine der Kisten zu öffnen, doch die waren mit dicken Schlössern gesichert. Auch in den anderen Schuppen bot sich ihr das gleiche Bild.
Auf dem Rückweg beschloss sie, ihre Entdeckung für sich zu behalten. Man kann nie wissen, wann eine Information wichtig sein würde. Sie vertraute darauf, den richtigen Moment zu erkennen. Zufrieden und mit etwas besserer Laune machte sie sich auf den Rückweg. Bereits aus einiger Entfernung konnte sie neben ihrem Schlitten einen zweiten entdecken. Na endlich, dachte sie.
Topa war Opa Kester bis zu einem belebten Platz in der Stadt gefolgt. Der Alte setzte sich auf den Rand einen Brunnens. Dann kramte er ein Stück Brot hervor und begann, darauf herum zu kauen. Nach einer Weile setzte sich Topa zu ihm.
„Du bist gekommen“, flüsterte Opa Kester mit Tränen in den Augen.
„Und ich bin nicht alleine.“
„Gerade noch rechtzeitig. In fünf Tagen wird Jytte gehängt.“
„Fünf Tage sind mehr als genug.“ Topa hoffte, dass seine Stimme überzeugend genug klang.
Sie unterhielten sich noch ein wenig. Abwechselnd zeigte der eine nach da, der andere dorthin.
Dann erhob sich Topa und machte sich auf den Weg zurück in ihr Versteck. Opa Kester blieb noch ein wenig sitzen. Dann machte auch er sich auf den Weg.
Jarrko war verwundert, als er den Schlitten verlassen vorfand. Er sah eine Gestalt, die den Hof verließ und in seine Richtung marschierte. Er stieg von seinem Schlitten und griff unter seinem Umhang nach seinem Messer. Als er schließlich Lele erkannte, war er erleichtert und gleichzeitig verärgert. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Lele in Fynns Auftrag den Hof betreten hatte. Wenn er etwas hasste, dann Leichtsinn und Ungehorsam. Er beschloss, keine Zeit zu verlieren.
„Wir fahren zu eurem Versteck. Cieli, Toni und der Knecht werden das Lager aufschlagen. Du begleitest mich auf eine Erkundungsfahrt“, sagte er, nachdem sie sich begrüßt hatten.
In Lele wuchs die Hoffnung, dass sie eine noch größere Rolle spielen könnte. Jarrko hatte nur einen Knecht mitgebracht. Cieli würde das Lager aufräumen und kochen. Je weniger Leute dabei waren, um so mehr würden sie sie brauchen.
„Wo ist Toni?“, fragte Lele.
„Ciao Bella. Toni is hier obe.“
Lele folgte der Stimme und sah Toni in einem Baum sitzen. Er kletterte herunter und stürmte auf sie zu. Nach einer langen Umarmung und unzähligen Küssen auf beide Wangen sagte er:
„Incredibile!!! Du bist no schöner als die letzte Mal“:
Die Erkundungsfahrt mit Jarkko war ereignislos. Mehrmals ließ er sie um die Stadt fahren. Zwei Haupttore, ein kleines Nebentor, eine mannshohe Mauer und nur vier Wachtürme, die alle unbesetzt waren. All das hatte sich Lele schon bei der ersten Umrundung eingeprägt.