Kaum war die Tür hinter Paola zugefallen, warf sie sich aufs Bett und fing an zu weinen. Ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt. Das, wovor sie geflohen war sollte nun doch Wirklichkeit werden. Nur, dass sie diesmal nicht freiwillig mit Luca vor den Altar treten würde. Am meisten machte ihr zu schaffen, dass sie auf sich alleine gestellt war. Niemand würde ihr helfen. Im Weihnachtsdorf wusste niemand, wer sie wirklich war. Deswegen würden sie dort auch nicht auf Idee kommen, hier nach ihr zu suchen. Und hier niemand ihre Ankunft bemerkt. Sie erkannte auch keine der Wachen oder der Diener von früher. Dann hätte sie die Chance gehabt, ihre Eltern zu benachrichtigen, dass sie hier gefangen gehalten wurde. Die Hilflosigkeit lähmte ihre Gedanken und ihre Suche nach einem Ausweg. Schließlich schlief sie ein und erwachte erst am nächsten Morgen, als ihr das Frühstück gebracht wurde.
Nachdem sie gefrühstückt und sich gewaschen hatte, versuchte Paola ihre Situation zu analysieren.
Das Luca einen Erben für seine Grafschaft brauchte, konnte sicher nicht der einzige Grund sein. Dafür gäbe es genügend andere Frauen. Sie trat ans Fenster und blickte hinaus. Irgendetwas war anders als früher. Sie brauchte eine Weile, bis sie dahinter kam. Der Garten. Der Garten war zwar ordentlich, aber nicht so perfekt, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Steckte Luca etwas in finanziellen Schwierigkeiten? Wenn dem so wäre, dann war sicher nicht ein Erbe der Grund für die Zwangsehe mit Luca, sondern er wollte an ihr Erbe. Die Frage war, ob Leles Mutter davon wusste. Endlich hatte Paola etwas zu tun, und das gab ihr Auftrieb. Zuerst musste sie herausfinden, ob ihre Vermutung hinsichtlich Lucas Situation richtig war. Zweitens musste sie herausfinden, was Melodi Bo wirklich wusste. Drittens brauchte sie einen Fluchtplan und viertens musste sie um jeden Preis verhindern, schwanger zu werden. Der Gedanke, dass sie nicht die Kinder von Fynn auf die Welt bringen würde, versetzte ihr einen tiefen Stich. Fynn war der einzige Mann, von dem sie sich Kinder wünschte. Und den hatte sie belogen. So, wie sie alle im Weihnachtsdorf belogen hatte So, wie ihr gesamtes Leben eine Lüge war. Wenn sie jemals wieder die Gelegenheit haben sollte, mit Fynn zu reden, würde sie ihm alles erklären und ihn um Verzeihung bitten. Sie hoffte, dass er ihr ihre Lüge verzeihen würde.
Es klopfte an der Tür und ein Diener brachte das Mittagessen und frisches Wasser. Paola beobachtete ihn genau. Seine Uniform war aus teuren Stoffen hergestellt. Aber es war keine Maßanfertigung. Die Hosen waren ein wenig zu weit und der breite Gürtel konnte dies nicht verbergen. Und seine Schuhe zeigen Spuren von Abnutzung. Luca musste also wirklich in Schwierigkeiten sein. Er war so ein eitler Pfau und krankhaft perfekt, was seine Kleidung und die seiner Diener anging.
„Warum speise ich nicht mit der Signora zu Mittag?“, fragte Paola und versuchte dabei möglichst hochnäsig zu wirken.
„Die Signora erwartet sie zum Abendessen“, erwiderte der Diener. „Haben Signora noch einen Wunsch?“
„Richten sie Verena aus, ich wünsche meinen Lieblingsnachtisch. Sie wird wissen, was ich meine.“
Der Diener schüttelte den Kopf.
„Verzeihung Signora, ich befürchte wir haben keine Verena in der Küche.“
Paola gab dem Diener ein Zeichen, dass die Unterhaltung vorbei war. Verena war also nicht mehr bei Luca angestellt. Von ihr hatte Paola alles gelernt, was man über die italienische Küche lernen kann. Sie hatten ein sehr herzliches Verhältnis gehabt, fast wie Mutter und Tochter. Hätte Verena erfahren, das Paola hier war, hätte sie ihre Familie benachrichtigt. Diese Möglichkeit musste Paola von ihrer Liste streichen. Blieben also noch zwei weitere Personen, die ihr helfen könnten. Alessio der Gärtner und Cieli, Verenas Tochter. Paola konzentrierte sich darauf, wie sie die anderen beiden finden konnte und wie sie Leles Mutter verunsichern konnte. Denn nur so würde diese Fehler machen und Paola würde an weitere Informationen kommen. Die gedankliche Arbeit an ihrer eigenen Rettung lenkte sie von den Gedanken an Fynn ab. Ob sie ihn jemals wieder sehen würde? Und ob er ihr verzeihen würde? Denn wenn nicht, wäre alles umsonst gewesen.