19/2017 Fressen um zu leben

Lele und Paola versuchten sich seit dem Streit so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Lele tat, als würde sie das Experiment mit dem Hasen nicht interessieren, kümmerte sich aber weiterhin um Fynn. Allerdings nur, wenn Paola gerade zufällig nicht bei ihm war. Paola tigerte zwischen Fynn uns dem toten Hasen hin und her. Gegen Abend ging sie erneut nachsehen, ob schon Maden auf dem Kadaver zu finden waren. Als sie mit dem Fuß dagegen stieß, flogen ein paar Fliegen davon. Mit etwas Glück sollten am nächsten Morgen die ersten Maden zu finden sein. In dieser Nacht schlief Paola seit langem wieder einmal ohne aufzuwachen.

Am nächsten Morgen fand sie tatsächlich Maden auf dem Kadaver. Nicht mehr als ein Dutzend, aber immerhin ein Anfang. Mangels Alternativen griff sie mit der bloßen Hand nach den Würmern, legte sie auf ein Taschentuch und ging zurück zu Fynn.

„Einfach reinlegen?“, fragte sie Lele.

Als sie keine Antwort bekam, interpretierte sie das als ein Ja und öffnete den Verband. Vorsichtig verteilte sie die Maden einzeln in der Wunde. Jetzt konnte sie nur noch abwarten.

„Ich gehe etwas Kräuter sammeln und sehe, ob ich etwas essbares für uns finde. Pass du bitte auf Fynn auf.“

Sie wartete nicht auf eine Reaktion von Lele sondern stieg auf den Schlitten und fuhr davon.

Lele war froh, nun einige Zeit alleine zu sein. Etwas von der Anspannung fiel von ihr ab. Sie setzte sich neben Fynn, fühlte seine Stirn, hörte seinen Atem ab und spürte, dass sein Puls wieder kräftiger wurde. Langsam hob sie den Verband an. Die Maden zappelten in der Wunde. Jedoch konnte sie nicht erkennen, ob sie tatsächlich von dem toten Fleisch fraßen. Nach dem sie auch keine Anzeichen Infektion finden konnte, dass der Zustand der Wunde sich verschlimmert hätte, dämmerte ihr langsam, dass dieser verrückte Plan wirklich funktionieren könnte. Da sie nichts weiter tun konnte als zu warten, nahm sie ein Bad im Fluss. Es war niemand hier und Fynn schlief noch, also würde kein Risiko bestehen. Sie zog ihre Kleider aus und legte sie ans Ufer. Das Wasser war kalt und es kostete sie einige Überwindung, aber als sie endlich ganz im Wasser war, fand sie es gar nicht mehr so kalt. Im Gegenteil, das kalte Wasser ließ sie ihren Körper wieder spüren. Ein Gefühl, dass sie schon seit längerem nicht mehr gehabt hatte Ich sollte öfter nackt in türkisfarbenem Wasser baden, dachte sie bei sich.

Nach dem Bad wärmte sie sich eine Weile am Feuer. Der Wechsel zwischen warm und kalt, jetzt wieder warm machte sie schläfrig. Sie kontrollierte noch einmal Fynns Wunde. Dann legte sie sich neben ihn und schlief ein. Als wie wieder aufwachte, war die Sonne schon dabei, langsam unterzugehen. Paola war noch nicht zurück. Lele sah erneut nach der Wunde. Sie hatte den Eindruck, dass die Tierchen größer waren. Und sie bewegten sich immer noch. Paola hatte es tatsächlich geschafft. Und sie, Lele, war nur herum gesessen, satt zu helfen. Sie ging zu dem Kadaver um weitere Maden zu holen. Sie schaffte es sogar, ihren Ekel zu überwinden und die kleinen weißen Würmer in die Hand zu nehmen. Zumindest gab es jetzt wieder eine Chance, dass Fynn überleben würde. Vielleicht gab es ja auch eine Chance für die Freundschaft mit Paola.

Die kehrte kurze Zeit darauf zurück und konnte gerade noch sehen, wie Lele einige Maden aus der Wunde nahm und ins Feuer warf.

„Was machst du da?“, rief sie und sprang vom Schlitten. „Lass gefälligst deine Finger von ihm.“

Paola rannte zu Fynn. Erstaunt stellte sie fest, dass viel mehr Maden in der Wunde waren als heute vor ihrem Aufbruch.

„Die alten Maden müssen raus, bevor sie sich einpuppen“, sagte Lele. „Das machen sie nämlich, wenn sie vollgefressen sind.“

Paola blickte sie traurig an.

„Entschuldige bitte. Ich dachte du würdest….“

„Schon ok“, sagte Lele und kniete sich neben sie.

„Ich bin so müde und erschöpft, ich kann schon nicht mehr klar denken.“

„Fynn geht es gut und die Maden tun was sie tun sollen. Ich mach uns etwas zu essen. Du kannst solange ein Bad im Fluss nehmen. Hab ich auch gemacht. Wird dir guttun.“

Lele hörte sich ganz anders an als in den letzten Tagen. Ihre Stimme klang kräftiger und voller Zuversicht. Vielleicht war ein Bad tatsächlich das richtige.

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