20 Der neue Alltag

Nach all der Aufregung und Erlebnissen der Freunde, kehrte langsam wieder etwas Ruhe ein. Boje und Vendela mussten lernen, zwei kleine Babys zu versorgen und trotzdem den Hof nicht zu vernachlässigen. Lele, Paola und Topa verbrachten so viel Zeit wie möglich auf Livdröm. Von Babysitten über Hausputz bis zur Hofarbeit halfen sie, wo Not am Mann war. Auch Oma Lerke machte sich immer wieder auf, um die junge Familie zu besuchen. Ihr Wissen als Kräuterfrau war Gold wert für Vendela und Boje.

Wenn Paola nicht in der Backstube oder in Livdröm war, verbrachte sie die meiste Zeit mit Oma Lerkes Büchern. Zwischen ihr und Oma Lerke hatte sich eine besondere Verbindung entwickelt. Wenn Paola frei hatte, unternahmen sie lange Ausflüge, meist rund um das Dorf. Oma Lerke zeigte Paola unzählige Plätze, an denen besondere Pflanzen wuchsen. Oft saßen sie Abends lange zusammen und diskutierten.

„Ich frage mich, ob nicht mehr Blüten von Nutzpflanzen essbar sind?“, überlegte Paola bei einer ihrer Diskussionen laut.

„Wenn du die Frucht essen kannst, dann kannst du auch die Blüte essen. Oft sind die Blüten durch den Nektar süßer, schmecken ansonsten aber wie die reife Frucht“, antwortete Oma Lerke.

„Was genau ist eigentlich eine Kräuterfrau?“, fragte Paola weiter.

„Nun, das ist ein sehr altes Wissen über das, was in der Natur wächst. Der größte Teil davon handelt von Kräutern und Heilpflanzen. Daraus machen wir einfache aber auch spezielle Mischungen für Tee, Salben, Medizin oder Tinkturen. Aber auch in der Küche, beim Backen, für Seifen oder Duftwasser setzen wir unser Wissen ein. Vielen von uns werden magische Kräfte nachgesagt, manch einer bezeichnet uns auch als Hexen.“

„Woher hast du all die Bücher?“

„Ich habe mein ganzes Leben versucht, möglichst viel Wissen anzuhäufen. Als junge Frau habe ich viele Reisen unternommen und dabei unzählige Kräuterfrauen kennen gelernt. Mit den meisten ist danach ein regelmäßiger Briefwechsel entstanden. Und daraus wiederum ist die Tradition entstanden, dass wir Kräuterfrauen unser Wissen in Briefen und Büchern an alle Kräuterfrauen weitergeben.“

Paola überlegte eine Weile. „Wieso werdet ihr als Hexen bezeichnet? Das scheint mir ein ziemlich falsches Bild zu sein. Mit eurem Wissen könnt ihr soviel Gutes tun.“

„Da hast du sicher recht“, erklärte ihr Oma Lerke. „Aber unser Wissen bringt auch eine große Verantwortung mit sich. Denke nur mal an die Folgen, wenn wir Medizin herstellen. Und wo Licht ist, da ist auch Schatten. Es gibt durchaus ein paar Kräuterfrauen, die ihr Wissen für üble Machenschaften nutzen. Dir vertraue ich. Wenn du möchtest, weihe ich dich tiefer in unsere Kunst ein. Aber das musst du nicht heute entscheiden.“

Paola war tief berührt. Das Vertrauen, dass Oma Lerke ihr entgegenbrachte tat ihr gut. Gleichzeitig spürte sie auch die große Verantwortung, die dieses Wissen mit sich bringen würde. Mehr als ein schlichtes ‚Danke‘ brachte sie nicht heraus. Doch die Worte von Oma Lerke wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Oma Lerke spürte, dass es Zeit für einen Themenwechsel war.

„Wie läuft es in der Backstube?“, fragte sie, um ein möglichst unverfängliches Thema zu wählen.
„Sehr gut. Wir haben das Angebot wieder erweitert. Und ein paar neue Stammkunden haben wir auch“, freute sich Paola.

Am nächsten Tag ging Paola früher als sonst in die Backstube. Das Gespräch mit Oma Lerke hatte sie auf eine Idee gebracht. Doch sie kam nicht dazu, ihre Idee auszuprobieren. Stattdessen packte sie mit an, die frischen Waren in den Laden zu bringen. Die ersten Kunden kamen auch schon zum einkaufen. Einer von ihnen war Fynnjard.

„Guten Morgen Paola“, sagte er mit einigem Unbehagen.

„Hallo Fynnjard. Schön, dass du mal vorbeischaust“ begrüßte ihn Paola.

Ich komme doch jeden Tag, dachte Fynnjard bei sich.

„Ich habe von den Babys gehört. Es tut mir leid, dass ich deinen Freunden nicht helfen kann.“

„Es ist nicht deine Schuld“, sagte Paola.

„Ihr habt trotzdem etwas gut bei mir. Wenn ihr mal Hilfe braucht, komme ich gerne.“

„Das merk‘ ich mir“, grinste Paola. „Was bist du eigentlich für ein Geselle?“

„Ich bin Schreiner und Zimmermann. Also jede Art von Arbeit ist mir willkommen, Hauptsache es hat mit Holz zu tun. Du musst nur sagen was du brauchst, und ich baue es dir“, prahlte er, um Paola zu beeindrucken.

„Gut zu wissen. Hier, das ist für dich“ sagte sie und reichte ihm zu seiner Bestellung noch ein paar kleine Gebäckstückchen. „Das sind Biscotti, meine Spezialität.“

„Danke, und bitte nenn‘ mich Fynn. Bis bald mal.“

„Ja, bis bald mal, Fynn“, sagte sie leise, als er schon gegangen war. Erst jetzt merkte sie, dass Tante Unn neben ihr stand.

„Wer war das?“, erkundigte sich Tante Unn neugierig.

„Das? Das war Fynnjard. Ich habe ihn mit einigen meiner Biscotti bestochen, mal schauen ob er nicht zum Stammkunden wird,“ antwortete Paola.

„Das ist er doch schon längst. Er kommt jeden Tag, seit dem du nicht mehr in der Hütte der Rektorin wohnst.“

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