Archiv für den Monat: Dezember 2014

Weihnachten im Krankenhaus

Lele saß in ihrem Bett und strickte Babysocken. Sie war froh, das ihr kleines Abenteuer so glimpflich ausgegangen war. Topa war zu ihrem Erstaunen nicht böse auf sie. Im Gegenteil, er hatte mit viel Verständnis reagiert. Sie konnte das Gefühl nicht genau beschreiben, aber es tat ihr gut, bei Topa einfach sie selber sein zu können. Sie schämte sich für ihre Schwächen und Fehler. Aber Topa schien sie genau dafür zu lieben. Dieses Vertrauen breitete sich als wohlige Wärme in ihr aus.

Die Wärme bekam einen spürbaren Dämpfer, als die Tür aufging und ihre Mutter hereinstürmte.

Kindchen, willst du deine Mutter umbringen? Was machst du auch für Sachen? Ich hab dir ja gesagt, dass dein Umgang noch zur Tragödie führen wird. Aber jetzt ist alles gut, ich bin da und werde das in die Hand nehmen. Kindchen, wie du aussiehst.“

Danke, mir geht es gut. Schön, dass du danach fragst!“, stellte Lele beiläufig fest und konzentrierte sich demonstrativ auf die Babysocken.

Was? Ach natürlich geht es dir gut, schließlich haben deine Eltern dir geholfen.“

Ja, Papa hat sich nach meiner Einlieferung um mich gekümmert. Und es waren Topa und Boje, die mich gerettet haben. Du hast es immerhin schon am nächsten Tag geschafft, nach mir zu sehen. Sehr aufmerksam. Danke.“

Also Kindchen, eine Frau in meiner Position, da hat man halt Verpflichtungen, die…“

…wichtiger sind als die eigene Tochter?“, beendete Lele den Satz ihrer Mutter. Verdutzt hielt die Rektorin inne. Das ihr jemand ins Wort fiel war sie nicht gewohnt.

Aber….“, begann sie.

Nichts aber. Ich freue mich, wenn du mich besuchst und nach mir siehst. Nur deine Predigt spar dir bitte. Ich werde mein Leben auch ohne dich meistern.“ Lele blickte ihrer Mutter dabei fest in die Augen. Dann strickte sie weiter.

Kindchen, was sind das denn für Töne? Willst du deine Mutter etwa aus deinem Leben drängen? Nun, dann wird es dich auch sicher nicht interessieren, was ich Neues über diesen Topa und diese unmögliche Frau Paola erfahren habe.“

Du hast recht, es interessiert mich nicht.“

Die ganze Nacht war sie bei ihm. Das sagt doch alles. Kaum bist du im Krankenhaus, schon verbringen die beiden eine ganze Nacht zusammen. Ich will gar nicht wissen, was die da so gemacht haben. Bestimmt….“

Wir haben uns über unsere Familien unterhalten und interessante Zusammenhänge entdeckt.“ Jetzt war es Topa, der der Rektorin ins Wort fiel.

Stimmt“.pflichtete Paola ihm bei. „Das machen Geschwister so.“ Weder die Rektorin, noch Lele hatten bemerkt, dass Topa und Paola das Zimmer betreten haben.

Haben die beiden etwa gelauscht?“, fragte die Rektorin Lele.

Nun, das hoffe ich doch“, gab Lele triumphierend zu. „Mama, die beiden sind Geschwister. Deine Andeutungen könnten für eine Frau in deiner Position peinlich werden, wenn sie offensichtlich falsch sind.“

Also bitte. Eine Frau in meiner Position….“ Diesmal wurde die Rektorin von einem Arzt unterbrochen, der das Zimmer betrat.

Soo, dann wolln wir mal sehen, was wir hier haben“. Der Arzt hatte eine auffällig tiefe Stimme. Lele konnte sich nicht erinnern, ihm je während der Arbeit begegnet zu sein. Er stand am Fenster und hielt sich Leles Krankenblatt vor das Gesicht.

Na da haben wir ja jede Menge Besucher. So geht das nicht. Die Patientin braucht Ruhe.“

Bitte“, sagte die Rektorin. „Ich war zuerst hier. Sollen die beiden Personen wieder gehen.“

Gnädige Frau, das ist kein Wunschkonzert sondern ein Krankenhaus. Sie verlassen jetzt bitte alle das Zimmer.“

Die Rektorin wollte sich noch nicht geschlagen geben. „Aber ich bin ihre Mutter!“

Und ich bin ihr Arzt. Und ich dulde keine Diskussion“, sagte der Arzt mit ernstem Ton und zeigte mit dem Finger auf die Tür.

Also das ist doch eine Unverschämtheit. Junger Mann, sie wissen wohl nicht wer ich bin. Mein Mann ist hier der Chef, ich werde mich sofort auf das energischste bei ihm über sie beschweren“, schnaubte die Rektorin und stürmte an Topa und Paola vorbei aus dem Zimmer. Die beiden Geschwister wollten auch gerade gehen, doch der Arzt hielt sie zurück.

Ihr könnt bleiben, die Gefahr ist aus ärztlicher Sicht vorbei“, sagte er und senkte das Krankenblatt.

Boje?!“, riefen alles drei fast gleichzeitig.

Ich hab mich schon gewundert, dass ich diesen Arzt nicht kenne“, sagte Lele lachend. „Kein Wunder. Das war ne starke Nummer. Wie bist du denn auf die Idee gekommen?“

Wir standen vor der Tür und haben deine Mutter bis auf den Gang gehört. Da hab ich mir einfach einen Arztumhang geschnappt und ein wenig improvisiert. Jetzt muss ich aber schnell den Umhang zurück geben. Und Vendela wartet auch noch draußen“: Boje zog den Umhang aus und verließ das Zimmer. Kurz darauf kehrte er mit Vendela zurück, die einen großen Korb trug.

Die Freunde freuten sich zusammen über den gelungenen Scherz.

Also eure Idee, das ihr Geschwister seit, hat die Rektorin aber auch ganz schön aus der Fassung gebracht“, sagte Vendela.

Das ist kein Scherz“, sagte Paola und weihte die beiden in das Geheimnis ein, das nun endlich keines mehr war. Lele hatte sie bereits bei ihrem Besuch mit Tante Unn eingeweiht.

Also das müssen wir feiern!“ Vendela öffnete ihren Korb und präsentierte eine ordentliche Brotzeit, die wohl für das ganze Krankenhaus gereicht hätte. Boje schnappte sich die Flasche Wein und sagte mit seiner Arztstimme: „Aus ärztlicher Sicht keine Einwände!“

Den restlichen Weihnachtsabend verbrachten die fünf Freunde lachend bei gutem Essen und einer Flasche Wein.

Wie eine richtige Familie, dachte Lele bei sich. Ich wünschte mir, dass es immer so sein würde.

Ob Lele´s Wunsch in Erfüllung geht, warum sie Babysocken strickt und welche Abenteuer die Freunde noch zusammen erleben, dass erfahrt ihr nächstes Jahr. Denn die Geschichte wird weiter gehen. Die Babysocken sind nicht meine Idee, die gibt es wirklich. Und zwar handgemacht mit selbst gefärbter Wolle und mit viele Liebe hergestellt und verpackt. Schaut doch mal unter www.mal-eben.me – da gibt’s auch einen sehr schönen Adventskalender (findet ihr auch bei Fäisbugg). Mehr dazu nächstes Jahr.

Ich möchte mich ganz herzlich bei Allen bedanken, die mich auch dieses Jahr bei der Geschichte begleitet haben. Wem die Geschichte gefallen hat, der darf sie gerne weiterempfehlen, wem das eine oder andere nicht so gut gefallen hat, den bitte ich, mir das zu schreiben. Lob und Kritik sind immer als Kommentar (funktioniert wieder) oder per Mail an mich willkommen.

Ich wünsche Euch allen ein frohes Weihnachtsfest im Kreise der Menschen, mit denen ihr gerne so ein Fest feiert. Für das nächste Jahr Wünsche ich Euch ebenfalls Alles Gute und vor allem Gesundheit, Zufriedenheit und viele schöne Momente mit der Familie und Freunden.

Liebe Grüße

Philipp

Paolas Bruder

Topa wurde langsam unruhig. Das Schicksal von Paola und ihrer leiblichen Mutter ging ihm nahe. Denn schließlich waren ja auch seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Nur wusste er nichts darüber und auch Tante Unn oder sonst jemand konnte ihm da nicht weiter helfen.

Je näher der entscheidende Punkt der Geschichte kam, umso nervöser wurde Paola.

Also haben die beiden Reisenden dich gerettet?“, wollte Topa wissen.

Ja“, antwortete Paola. „Als sie in der Herberge angekommen waren, erzählten sie den Wirtsleuten ihre Geschichte. Doch leider war in den letzten Tagen wegen des Schneesturms niemand in der Herberge angekommen. Und auch wir saßen damals noch ein paar Tage fest. Als der Sturm dann endlich vorbei war, machten sich der Wirt und mein Vater auf und suchten nach der Unfallstelle. Doch da meine Eltern weder die Gegend kannten, noch genau wussten in welche Richtung sie in dem Sturm gelaufen waren, blieb die Suche ohne Erfolg. Die Wirtsleute hatten selbst zwei kleine Kinder und konnten sich nicht um mich kümmern. Also beschlossen meine Eltern, mich mit auf die Reise zunehmen. Aber auch in den nächsten Herbergen wusste niemand etwas über einen Mann, der seine Familie im Wald zurücklassen musste um Hilfe zu holen. Und so kam es, das meine Eltern mich mit in ihr Weihnachtsdorf in Italien nahmen. Sie zogen mich auf wie ihre eigene Tochter. Und für mich sind sie meine Eltern.“

Und hast du seit dem du hier bist schon nach deinem Vater suchen können?“

Ich war in diesem Sommer auf jedem Bauernhof und in jeder Herberge die nicht weiter als 5 oder 6 Tagesreisen von hier lag“, fuhr Paola fort.

Und auf einem Bauernhof erzählte mir die Bäuerin von einem Mann, der eines Tages mitten in einem Schneesturm mit letzter Kraft an ihre Türe klopfte. Der Mann hatte einen kleinen Jungen bei sich. Die Familie des Bauern kümmerte sich um den Jungen und pflegten den bewusstlosen Mann. Er war noch am Leben, hatte aber schwere Erfrierungen an den Füßen, einen verstauchten Fuß. Er musste mehrere Tage durch den Sturm gelaufen sein. Nach zwei Tagen kam der Mann wieder zu sich und erzählte seine Geschichte. Er hatte mit seinem Schlitten einen Unfall im Wald, seine Frau war schwanger und kurz nach dem Unfall brachte sie eine Tochter zur Welt. Der Mann nahm seinen Sohn und machte sich auf, um Hilfe zu holen. Er irrte mehrere Tage durch den Sturm, bis er schließlich hier an die Tür klopfte.“

Paola trank langsam ihren Tee aus, um etwas Zeit zu gewinnen. Topa fiel es zunehmend schwer, geduldig zu warten, bis Paola endlich zum Schluss der Geschichte kam.

Der Sturm tobte noch einige Tage und so war es dem Bauern unmöglich, sich auf die Suche nach der Frau und dem Baby zu machen. Nach der Beschreibung des Mannes musste die Unfallstelle 4 oder 5 Tagesreisen entfernt sein. Der Mann sprach aber immer von 3 Tagen, die er in dem Sturm verbracht hatte. Schließlich gelang es dem Bauern, die Unfallstelle im Wald zu finden. Dort fand er aber nicht die Frau und das Baby sondern nur eine Nachricht.

Als er dem Mann die Nachricht vorlas, schloss dieser die Augen und begann zu weinen. Am nächsten Morgen war der Mann tot. Die Bäuerin erzählte mir, er sei an gebrochenem Herzen gestorben, nachdem er vom Tod seiner Frau erfahren hatte.“

Dann hast du also tatsächlich deine leiblichen Eltern gefunden“, unterbrach Topa. „Aber was ist aus dem Jungen geworden? Schließlich ist er dein Bruder.“

Nun“, sagte Paola und blickte Topa in die Augen. „Einige Tage, nach dem der Mann gestorben war, kam ein anderer Kurier vorbei. Der kannte den Mann und seine Frau. Und so brachten sie den Jungen zu der Familie der Frau. Der Mann hieß Eirik und seine Frau Maj-Lis.“

Genau wie meine Eltern“, platze es aus Topa heraus. Langsam aber unaufhaltsam keimte in ihm eine Ahnung.

Ja. Genau wie deine Eltern. Und der Junge hieß Topa.“

Aber….. Dann bist du…..“, stotterte Topa.

Ich bin deine Schwester. Und du bist mein Bruder.“

Bruder und Schwester fielen sich in die Arme und weinten.

Ich hab eine Schwester“, flüsterte Topa immer wieder.

Damenbesuch

Topa ging vom Krankenhaus direkt nach Hause. Tante Unn wartete schon auf ihn. Er erzählte kurz, was Lele passiert war und wie es ihr ging.

Du siehst müde aus“, bemerkte Tante Unn.

Boje hat mich mitten in der Nacht geweckt. Wir haben bis zum Morgen gebraucht, bis wir bei Lele waren. Ich werd mich jetzt auch noch ein wenig hinlegen. Heute Abend will ich dann noch mal zu Lele.“

Vielleicht kannst du zum Essen kommen. Paola wird auch da sein.“

Ich werd kurz vorbei schauen und Hallo sagen“, versprach Topa.

Topa wurde aus einem tiefen Schlaf gerissen, als es an seine Tür klopfte. Auf sein verschlafenes „Herein“, betrat Paola seine Stube.

Hallo Topa. Ich bringe dir etwas zu Essen und eine Kanne Tee.“

Wann habt ihr denn gegessen?“, fragte Topa.

Schon vor einer ganzen Weile. Die Kinder sind schon im Bett. Du hast sehr lange geschlafen.“

Ich will noch zu Lele und nach ihr sehen.“

Da waren Tante und ich gerade. Es geht ihr sehr gut, auch wenn sie noch ziemlich verbeult aussieht. Sie lässt dich ganz lieb grüßen und es ist für sie ok, wenn du erst morgen früh wieder kommst“, fasste Paola den Besuch kurz zusammen.

Ich habe dich geweckt, weil es an der Zeit ist, dir etwas wichtiges zu erzählen.“ Paola wirkte jetzt sehr ernst und angespannt.

Dann setzen wir uns an den Tisch, ich esse und höre dir zu“, schlug Topa vor. Paola nickte.

Dann begann sie, von ihrer Familie in Italien zu erzählen und wie sie als kleines Kind dort aufgewachsen ist. Topa machte sich über das Essen her und nickte zwischendurch als Zeichen, dass er ihr zuhörte und verstand.

Als meine Mama mich für so reif hielt, erzählte sie mir, dass sie nicht meine leibliche Mutter wäre. Sie war als junge Frau mit ihrem Mann auf einer langen Hochzeitsreise. Sie besuchten viele Weihnachtsdörfer, um von den Bewohnern dort zu lernen. Deswegen haben auch mein Bruder Toni und ich bei diesem Austausch mitgemacht. Toni, weil er Abenteuer erleben wollte, und ich weil ich heimlich hoffte, meine richtigen Eltern zu finden. Meine Mama hatte mir nämlich erzählt, sie hätte mich unter sehr traurigen Umständen in einem Wald gefunden, der nur wenige Tage von hier entfernt sein musste. Sie gerieten damals in den schlimmsten Schneesturm, den sie je erlebt hätten. Sie suchten Schutz im Wald und kamen an eine Lichtung. Dort saß eine Frau mit einem schreienden Baby im Arm an einen Baum gelehnt. Sie saß im Schnee. Die Feuerstelle war schon kalt.“ Hier musste Paola kurz schlucken. Topa bot ihr eine Tasse Tee an. Sie nahm einen Schluck und fuhr dann mit ihrer Geschichte fort.

Das Kind schrie, aber die Frau schien überhaupt nicht darauf zu reagieren. Als meine Eltern vorsichtig näher kamen, entdeckten sie, dass die Frau in einem großen Blutfleck saß. Sie war tot. Meine Mama nahm das Baby aus ihren Armen, während mein Vater nach etwas zu essen für die kleine suchte. Sie vermuteten, dass die Frau das Kind hier im Wald zur Welt gebracht hatte, nachdem sie mit dem Schlitten einen Unfall gehabt hatte. Ohne fremde Hilfe, sei sie dann wohl nach der Geburt verblutet.“

Wieder schluckte Paola und machte eine Pause. Topa gab ihr die Zeit sich wieder zu sammeln. Auch ihn berührte das Schicksal der armen Frau.

Und das Baby, das warst du?“, fragte Topa nach einer Weile.

Ja“, antwortete Paola. „Meine Eltern versorgten mich. Dann begrub Papa die Frau im Wald. Dabei entdeckte er noch weitere Spuren. Die stammten von einem Mann und einem Rentier. Vielleicht des Vater des Kindes, der sich aufgemacht hatte, um Hilfe zu holen. Mama und Papa entschieden, nicht im Wald zu warten, sonder mich in die nächste Herberge zu bringen. Sie hinterließen eine Nachricht, was sie hier vorgefunden hatten und wohin sie nun gehen wollten. Dann packten die restlichen Vorräte, wickelten mich in eine Decke und Papa baute aus einem Rentierfell eine Tragetasche, die er sich um die Schultern hängen konnte. Nach einer weiteren Nacht im Freien, erreichten sie schließlich eine Herberge.“

Sauer oder nicht sauer

Lele lag im Schnee, eingeklemmt unter dem Schlitten. Ihr Bein tat höllisch weh, sobald sie eine falsche Bewegung machte. Nach einer Weile wurde ihr kalt. Sie suchte mit den Händen nach dem Rentierfell und bekam es tatsächlich zu fassen. Der Versuch, das Fell unter ihren Körper zu ziehen war begleitet von einigen schmerzhaften Bewegungen. Aber schließlich hatte sie es geschafft. Nun konnte sie nur hoffen, dass einer der Nikoläuse sie hier zufällig finden würde. Sie schimpfte mit sich selber. Ihre Idee kam ihr jetzt gar nicht mehr so toll vor. Sie war wütend, weil sie sich so dumm verhalten hatte. Auch der Streit mit ihrer Mutter war völlig falsch und sie wollte ihn nicht mehr als Ausrede für ihren Ausflug gelten lassen. Es war schlicht und einfach ihre Neugier gewesen, die sie in diese Lage gebracht hatte.

Je länger sie bewegungslos unter dem Schlitten lag, umso mehr schwand ihre Hoffnung. Die Schmerzen in ihrem Bein wurde schlimmer. Die Hilflosigkeit, die Dunkelheit und die Scham über ihre Dummheit und ihr Missgeschick machten ihr Angst. Sie dachte nicht an ihre Rettung, sondern an das danach. Wie würde Topa reagieren? Sie hatte seinen Schlitten und seine Rentiere geklaut. Den Schlitten hatte sie gegen einen Baum gefahren und was mit den Rentieren bei dem Unfall passiert war wusste sie nicht. Sie hatte Topas Vertrauen missbraucht und mit ihrer Dummheit auch ihre Freunde enttäuscht. Sie war nicht nur alleine hier gefangen, sie fühlte sich auch so. Schließlich begann sie zu weinen. Irgendwann gewann die Müdigkeit die Oberhand und Lele schlief ein. Sie träumte, die Gestalten aus dem Dorf der Menschen hätten sie erwischt und in einen dunklen Raum gesperrt. Sie rief immer wieder nach Hilfe, aber niemand antwortete ihr. Die Wände ihres Gefängnisses schienen sich langsam auf sie zu zu bewegen. Der Raum wurde immer kleiner. Sie konnte nichts dagegen tun und ihre Schreie waren nur noch lautlose Grimassen auf ihrem Gesicht. Die Wände schienen immer noch näher zu kommen. Da fiel ein schwaches Licht aus einer der Ecken auf sie. Dann hörte sie eine Stimme. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, aus welcher Richtung die Stimme kam. Da, da war wieder die Stimme. Und sie rief ihren Namen. Sie wollte antworten, brachte aber keinen Ton hervor. Wenn sie sich etwas streckte, konnte sie vielleicht mit einer Hand gegen die Wand schlagen und so auf sich aufmerksam machen. Sie streckte den Arm aus. Der Schmerz in ihrem Bein brachte sie zurück aus der Traumwelt. Sie öffnete die Augen und sah, wie der Schlitten von einer unsichtbaren Kraft hochgehoben wurde. Da erst wurde ihr bewusst, dass es Topa war, der ihren Namen rief. Freunde und Scham wechselten sich in ihr ab.

Topa, du hast mich gefunden. Es tut mir so leid“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Krankenhaus. Topa saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Und auch Vendela war da.

Hey, wie fühlst du dich?“ fragte Topa.

Ziemlich mies“, gab Lele zu. „Aber ich bin froh, dich zu sehen.“

Dir ist nichts schlimmes passiert. Nur ein paar blaue Flecken, einige Kratzer und ein gebrochenes Bein“, sagte Vendela. „Aber ich glaub, ich lass euch beide jetzt mal alleine. Schön, dass du wieder wach bist. Wir kommen morgen vorbei und sehen nach dir.“

Als Vendela die Tür hinter sich ins Schloss zog, herrschte für einen Moment betretenes Schweigen.

Wie habt ihr mich eigentlich gefunden?“, wollte Lele wissen.

Das Geschirr von Belia ist bei dem Unfall komplett von dem Schlitten abgegangen. Sie ist dann zu Boje gelaufen und der hat mich dann informiert. Dann hat Belia uns zu dir geführt. Aber wie bist du eigentlich dahin gekommen?“

Lele erzählte Topa von dem Streit und ihrem Abenteuer. Sie vermied es dabei, ihm in die Augen zu sehen.

Ich bin nur froh,“ sagte Topa als Lele fertig war, „dass dir nichts passiert ist.“

Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir. Ich hätte das nicht tun dürfen. Aber ich war so wütend und enttäuscht, dass ich wohl einfach nicht mehr klar denken konnte. Ich schäme mich so dafür und kann verstehen, wenn du von mir enttäuscht bist.“

Ich hab mir schon lange gedacht, dass du eines Tages einen Ausflug zu den Menschen machen würdest. Du hast so viele Fragen über die Menschen gestellt, da lag die Vermutung nah. Und du hast deinen eigenen Kopf und jede Menge Temperament. Das macht dich zu der Frau, die ich liebe. Deswegen bin ich nicht enttäuscht. Nur ein bisschen traurig, dass du mich nicht mitgenommen hast.“

Du bist wirklich nicht böse auf mich?“, fragte Lele.

Nein, denn ich liebe dich. So einfach ist das. Allerdings werd ich lernen müssen, wie man einen Schlitten baut, der deinen Fahrstil aushält“ sagte Topa und beide mussten lachen.

Du bist ein wundervoller Mann“, antwortete Lele. „Ich liebe dich!“

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile. Dann wurde Lele müde und Topa verabschiedete sich mit dem Versprechen, möglichst schnell wieder bei ihr zu sein.

déjà vu

Eirik kam langsamer voran, als er gedacht hatte. Sein verstauchter Fuß machte ihm sehr zu schaffen. Bei der Suche nach Maj-Lis und während der Geburt in der Nacht hatte er nicht an die Verletzung gedacht und die Schmerzen verdrängt. Jetzt, nachdem er drei Tage zu Fuß durch den Schneesturm gelaufen war, konnte der Fuß sein Gewicht nicht mehr tragen. Er humpelte mehr als er gehen konnte. Zudem musste er Topa tragen und den Jungen vor dem Sturm schützen. Auch hatte er viel zu wenig Nahrung mitgenommen, damit Maj-Lis genug zu Essen und zu Trinken haben würde, bis er wieder bei ihr war. Die Schmerzen und der eisige Sturm raubten ihm mehr und mehr die Kräfte. Hinzu kam die Sorge um Maj-Lis und seine neugeborene Tochter, die noch nicht mal einen Namen hatte. Er hatte seine Vorräte rationiert, um noch für einen weiteren Tag Essen zu haben. Er selbst aß fast gar nichts sondern gab Topa wenigstens zu Essen. In dem Sturm konnte er auch kein Feuer machen um Schnee zu schmelzen. Seit einem Tag hatte er nichts mehr getrunken. Er strauchelte immer wieder, weil ihm schwarz vor Augen wurde und vermied es, mit letzter Kraft, zu stürzen. Denn wenn er erst mal im Schnee lag, hatte er Angst, vor Erschöpfung einzuschlafen. In dem Sturm wäre das das sichere Todesurteil für sie beide.

Gegen Abend lies der Sturm etwas nach. Er glaubte, am Horizont ein schwaches Licht zu erkennen. Die Bauernhöfe entlang der Reisewege entzündeten kleine Leuchtfeuer, um den Reisenden Orientierung zu geben.

Noch einmal nahm er alle Kraft zusammen, um die letzten Schritte bis zur Tür zurückzulegen. Bevor er ohnmächtig wurde, schaffte er es noch, mit seinen Stiefeln gegen die Tür zu treten. Dann wurde es dunkel.

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Lele rannte die letzten Schritte zum Schlitten ohne Luft zu holen. Die klugen Rentiere hatten sie längst erblickt und den Schlitten nahe an die Stelle gezogen, an der Lele die kleine Baumgruppe betreten würde.

Kaum war Lele in den Schlitten gesprungen, rasten die beiden Rentiere los und versteckten den Schlitten in den mächtigen Baumkronen. Lele lag auf dem Boden und rang nach Luft. Unten konnte sie die Stimmen der Gestalten hören. Sie schlugen mit ihren Ruten gegen die Bäume und schepperten mit ihren Glocken.

Die Suche der Gestalten wollte kein Ende nehmen. Immer wieder hörte Lele, wie sie lärmend zwischen den Bäumen nach ihr suchten, während andere die kleine Baumgruppe umstellt hatten, um jede Flucht zu verhindern. Ihr wurde kalt. Also breitete sie das Rentierfell auf dem Boden aus, legte sich darauf und zog sich die Decke drüber. So lag sie eine ganze Weile da. Die Gestalten wollten einfach nicht verschwinden, und schließlich schlief Lele ein.

Sie erwachte und brauchte eine Weile, bis sie wieder wusste, wo sie war. Erschrocken fuhr sie hoch und lauschte. Von den Gestalten war nichts mehr zu hören. Sie wagte einen Blick aus dem Schlitten. Nichts zu sehen. Erleichtert atmete sie auf, nur um im nächsten Moment wieder zusammen zu zucken. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie suchte zwischen den Baumspitzen nach dem Mond. Der war schon ein ganzes Stück weiter gezogen. Bald würde ein neuer Tag anbrechen. Sie musste sich beeilen, um noch rechtzeitig und unbemerkt im Weihnachtsdorf anzukommen. Also nahm sie die Zügel in die Hand und schnalzte zweimal mit der Zunge. Baja und Belia waren froh, sich endlich wieder bewegen zu können und beeilten sich ebenfalls, in ihren warmen Stall zu kommen.

Lele fuhr schneller, als sie es normalerweise tun würde. Sie vertraute den Rentieren. Als sie jedoch den Schlitten nach links lenkte, hörte sie ein lautes Knacken, als ob Holz brechen würde. Tatsächlich waren die Halterungen für das Geschirr der Rentiere aus ihren Verankerungen am Schlitten gebrochen. Die Belastung war einfach zu hoch für den alten Schlitten. Die beiden Rentiere bogen gehorsam nach Links, der Schlitten mit Lele fuhr aber noch ein gutes Stück gerade aus, bis er schließlich gegen einen Baum prallte, umkippte und auf dem Kopf liegen blieb. Lele war unter dem Schlitten eingesperrt. Sie hatte sich heftig den Kopf gestoßen. Vorsichtig versuchte sie, sich zu bewegen. Ihr rechtes Bein war eingeklemmt. Als sie versuchte, es unter dem Schlitten hervor zu ziehen, schrie sie laut vor Schmerzen.

Rauhe Sitten

Lele schlich immer noch ziellos und sehr vorsichtig durch die Straßen am Rand des Dorfes. Um den Rückweg wieder zu finden, entfernte sie sich lieber nicht allzu weit vom Versteck ihres Schlittens. Zwar wusste sie, dass die Menschen sie nicht als Dorfbewohnerin erkennen würden. Aber vor dem Kontakt mit den Menschen hatte sie schon etwas Angst. So wollte sie möglichst unentdeckt die Menschen und deren Leben aus sicherer Entfernung beobachten.

Sie kam an einem etwas abgelegenen Bauernhof vorbei. Der ganze Hof war dunkel, nur in einer Scheune schien reges Treiben zu herrschen. Zwischen einigen Brettern fielen schmale Streifen aus Licht auf den Hof. Lele suchte sich einen Spalt auf der dem Haupthaus abgewandte Seite und spähte hinein. Drinnen standen seltsame Gestalten. In der Mitte stand ein weißer Nikolaus. Sein Umhang, seine Robe, der Bart, der hohe Hut – alles strahlend weiß. An den Händen trug er weise Handschuhe und hielt einen goldenen Stab, der selbst den hohen Hut überragte. Um in herum standen finstere Gestalten. Die einen waren in schwarze oder graue Felle gehüllt. Die anderen schienen ganz aus Stroh zu bestehen. Beide trugen angsteinflößende Masken, die wie übergroße Tierköpfe aussahen. Mit riesigen Eckzähnen, einer wilden Mähne und Hörnern. Übergroße Augen blickten finster drein und die Zunge hing heraus. Und die Ruten und Peitschen die sie in den Händen hielten, liesen nichts gutes ahnen. So furchteinflössend diese Gestalten auch waren, sie schienen jede Menge Spaß zu haben. Denn sie lachten und scherzten und schienen sich auf das zu freuen, was vor ihnen lag. Jedes mal wenn sie sich bewegten klingelten und schepperten unzählige Glocken, die an ihren Kostümen angenäht waren. Schließlich gab der weiße Nikolaus das Zeichen zum Aufbruch. Er selbst führte den grimmigen Zug an. Zu dem Scheppern der Glocken machten die Gestalten ein fürchterliches Geschrei oder erzeugten mit Kuh- oder Ochsenhörnern unheimliche Laute.

Lele folgte der Gruppe in sicherem Abstand. Vor einem Haus blieb der weiße Nikolaus stehen. Die Gestalten stellten sich im Halbkreis um ihn auf und schirmten so den Eingang zum Haus ab. Der Krach hatte längst viele der Nachbarn aus ihren Häusern gelockt. Scheinbar trauten die Nachbarn dem finsteren Treiben auch nicht, denn sie betrachteten die Gruppe aus sicherem Abstand. 4 oder 5 der finsteren Gestalten schlugen mit ihren Ruten gegen die Fenstern und folgten dann dem weißen Nikolaus in das Haus. Lele konnte nicht sehen, was sich im Haus abspielt. Doch plötzlich flog die Haustür auf und die Gestalten zogen zwei Erwachsene und zwei etwas ältere Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, am Kragen aus dem Haus und warfen sie unsanft in den Schnee. Abwechselnd packten die Gestalten nun die Hausbewohner am Kragen, schleiften sie ein Stück über den Schnee und ließen sie dann wieder fallen. Das Mädchen schrie vor Angst. Dann packten zwei der Gestalten das Mädchen, stellten es auf die Beine und hielten es fest. Die anderen Gestalten gingen nun einer nach dem anderen zu dem Mädchen und schienen sie mit ihren Masken küssen zu wollen. Das Mädchen schrie noch lauter und versuchte sich los zureisen. Aber gegen die kräftigen Gestalten hatte es keine Chance. Weder die Eltern, noch der Bruder oder die Zuschauer rührten sich. Keiner kam dem armen Mädchen zu Hilfe. Lele packte die Wut.

Hey da!Sofort aufhören!“, schrie sie so laut sie konnte und verließ ihr Versteck. Zuschauer, der Nikolaus und alle Gestalten blickten nun auf Lele. Der Nikolaus hob seinen Stab und zeigte damit auf Lele. Einige der Gestalten liesen von ihrem Treiben ab und gingen auf Lele zu. Der wurde schlagartig bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die Gestalten wurden liefen immer schneller, grölten dabei und versuchten Lele zu umzingeln. Die machte kehrt und rannte so schnell sie konnte davon. Panik ergriff sie. Sie hatte zwar einen Vorsprung, aber ob der bis zum Schlitten reichen würde, da war sich Lele nicht wirklich sicher. Die Gestalten durften sie auf keinen Fall kriegen. Während sie flüchtete, versuchte sie sich zu orientieren. Hier gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sie musste es also bis zum Schlitten schaffen. Ihr Herz raste und sie bekam kaum noch Luft. Sie erreichte den Dorfrand und blickte zum Mond. Der war nun links von ihr. Also musste sie auch nach links laufen, dann müsste sie direkt auf ihr Versteck zu laufen. Die Gestalten waren immer noch hinter ihr her, schienen aber nicht näher zu kommen.

Lele erblickte die Baumgruppe in der ihr Schlitten stand und mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sobald sie im Schlitten saß, würde sie in Sicherheit sein. Gleich hatte sie es geschafft.

P.S.: Die von mir beschriebenen Gestalten sind sogenannte Buttnmandl. Dieser durchaus rauhe Brauch wird noch in einigen wenigen Dörfern und Städten in Bayern gepflegt (u.a. wohl in Berchtesgaden). Nachzulesen bei Wikipedia unter „Buttnmandllauf“. Ein paar Kleinigkeiten hab ich frei interpretiert 😉 .

Ein schlechter Ratgeber

@TWINS: Happy Birthday und bis später zum Geburtstags Brunch!

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Das war zu viel für Lele. Ihre Müdigkeit war Wut und Enttäuschung gewichen.

An dich?“ schrie Lele. „Es ist verdammt nochmal mein Leben. Und nicht deins. Und wenn du mir schon nicht helfen willst, dann hör wenigstens mit deiner ständigen Nörgelei auf.“

Kindchen! Schluss jetzt mit dem Blödsinn. So spricht man nicht mit seiner Mutter! Hör gefälligst auf mich, dann wirst du es auch zu etwas bringen. Und glaub ja nicht, das ich tatenlos zu sehen, wie du dein Leben vergeudest, weil du allein nie etwas von Wert erreichen wirst. Eine Frau in meiner Position weiß sich zu helfen. Ohne meine Hilfe wirst du es zu nichts bringen!“

Ach verdammt. Ich kann das nicht mehr hören. Ich werd dir schon beweisen, dass ich es zu etwas bringe. Und wenn es nicht deinen Vorstellungen entspricht – prima!“ Lele rannte aus ihrem Zimmer und stürmte die Treppe hinunter.

Kindchen, komm sofort zurück“, rief ihre Mutter ihr nach.

Lass mich in Ruhe!“ brüllte Lele zurück.

Im nächsten Moment knallte auch schon die Haustür. Dies mal war ihre Mutter zu weit gegangen. Nicht nur, dass sie sie wie ein kleines Kind behandelte, jetzt griff sie auch noch ihre Freunde an. „Der werd ichs schon zeigen“, dachte Lele bei sich und stapfte ziellos durch das Weihnachtsdorf. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie ihre Jacke noch in der Hand hielt. Die kalte Luft tat ihr gut. Auch wenn ihr Zorn dadurch nicht weniger wurde, so hatte sie doch das Gefühl wieder halbwegs vernünftige Gedanken fassen zu können. Sie wusste, dass Zorn und Enttäuschung schlechte Ratgeber sind. Aber ihr Stolz war verletzt, und deswegen würde sie etwas unternehmen, was ihrer Mutter endlich die Augen öffnen würde. Eine Idee nahm in Lele´s Kopf Gestalt an. Schlittenfahren war falsch. Also würde sie Schlittenfahren. Und ihre Freunde würde ihr vergiftete Gedanken einreden.

Pfff,“ dachte Lele bei sich. „Ich schnapp mir einen Schlitten und fahr zu den Menschen. Dann bring ich Mama etwas mit, was sie überzeugen wird, dass ich sehr wohl ohne das was sie Hilfe nennt, etwas zustande bringen würde.“

Sie blieb stehen. Je länger sie darüber nachdachte, um so besser gefiel ihr die Idee. Wenn sie leise genug wäre, könnte sie die beiden jungen Rentiere aus Topas Stall holen. Unter dem Vordach stand noch ein alter Schlitten. Und bis zum Morgen würde sie locker wieder zurück sein.

Am Stall angekommen, sah sie in Topas Stube Licht brennen und sie hörte Stimmen. War das etwa Santa Claus? Egal, wenn die beiden beschäftigt waren, konnte das für sie nur hilfreich sein. Lele kniete sich zwischen Baja und Belia und flüsterte den beiden zu, dass sie ihre Hilfe bräuchte. Leise folgten ihr die beiden Rentiere nach draußen und liesen sich ohne Widerstand vor den Schlitten spannen. Dann ging sie zurück, um noch ein Rentierfell und eine Decke für die Fahrt zu holen. Um nicht erkannt zu werden, wickelte sie sich so tief in die Decke, dass ihr Gesicht nicht zu sehen war. Als sie endlich den Wald erreicht hatte, wuchs in ihr die Zuversicht, dass ihr kleines Abenteuer ohne Probleme verlaufen würde und niemand etwas merken würde. Und so war es auch, sie fand mühelos einen der Übergänge in die Welt der Menschen.

Am Waldrand stoppte Lele den Schlitten. Sie hatte es tatsächlich bis zu den Menschen geschafft. Mittlerweile war ihr auch bewusst, das der Grund für ihre Fahrt ziemlich doof war. Aber jetzt war sie hier und wollte ihre Neugier endlich befriedigen.

Der Himmel war sternenklar und so konnte sie in einiger Entfernung mächtige Berge sehen, die als dunkle Schatten weit empor ragten. Sie steuerte den Schlitten auf ein Dorf am Fuße der Berge zu und parkte den Schlitten am Dorfrand, gut versteckt in einer Baumgruppe.

Vendela hatte ihr von einigen Weihnachtsbräuchen der Menschen erzählt. Jetzt sah sie zum ersten mal mit eigenen Augen die unzähligen Lichter, die nicht nur die Fenster schmückten. Ganze Häuser waren mit Lichtern geschmückt, in den Gärten standen künstliche Schlitten, Rentiere und Nikoläuse, die ebenfalls leuchteten und zusätzlich noch mit Lichtern geschmückt waren. Lele schüttelte den Kopf. Nicht genug, dass die Straßen und Fenster hell erleuchtet waren, dazu kam auch noch der ganze Lichterkram. Im Weihnachtsdorf gab es Tannenzapfen, die Nachts ein schwaches Licht abgaben. Gerade genug, um den Weg sehen zu können. Aus den Fenstern der Hütten drang Kerzenlicht oder man konnte das Flackern der Kaminfeuer sehen. Aber das hier? Wozu der ganze Aufwand? Damit es Nachts hell ist? Scheinbar waren die Menschen wirklich ein Volk mit sehr komischen Angewohnheiten.

Vor der Versammlung

Seit dem Zwischenfall auf dem Weihnachtskonzert des Wichtelchors hatte Lele jeden Kontakt zu ihrer Mutter vermieden. Lele tat es leid, dass sie so aufbrausend reagiert hatte. Es wollte ihr einfach nicht in den Sinn kommen, warum ihre Mutter alles und jeden herumkommandieren wollte und warum alles nach ihren Vorstellungen laufen musste. Wenn es das nicht tat, hagelte es Kritik. Sie schämte sich dann für ihre Mutter. Durch die gekünstelte und hochgestochene Art zu reden, wirkte ihre Mutter sehr bissig und konnte andere wirklich hart treffen. Und was sie selbst anging, wünschte sie sich wenigstens mal nicht kritisiert zu werden. Auf echte und ehrliche Anerkennung wagte sie schon nicht mehr zu hoffen. Und das nun auch noch Topa die meiste Kritik ab bekam, war einfach zu viel für Lele. Topa schien das alles bei weitem nicht so viel auszumachen wie ihr. Vielleicht lag es auch daran, das Topas Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind, als Topa noch sehr klein war. Bei Tante Unn und Onkel Pelle aufzuwachsen, war bestimmt etwas anderes. Und deswegen wollte oder konnte sie mit Topa nicht darüber sprechen.

Ohne zu klopfen, trat plötzlich ihre Mutter in ihr Zimmer.

Kindchen, da bist du ja.“

Lele sackte in sich zusammen. Das konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen.

Ich wünsche dir auch einen guten Abend. Komm ruhig rein.“

Bitte, Liebes. Du brauchst nicht gleich zynisch zu werden. Oder willst du, dass deine Mutter sich Sorgen machen muss?“

Da war sie wieder, diese beißende Kritik in fast jedem Satz. Und wieder traf sie.

Mama, was willst du? Ich bin müde und wollte gerade ins Bett.“

Kindchen, wir müssen über diesen Topa reden. Das ist doch kein Umgang für dich. Was findest du nur an diesem Kerl? Mit so einem wirst du es nie zu etwas bringen.“

Das hat gesessen. Aber Lele war zu müde und wollte nicht schon wieder mit ihrer Mutter streiten. Sie beschloss, nicht zum Angriff über zu gehen. Wenn sie einfach nur zuhörte und die Fragen stellte, die ihre Mutter hören wollte, würde sich das drohende Gewitter vielleicht einfach wieder verziehen.

Und zu was soll ich es deiner Meinung nach bringen“, fragte Lele.

Also Kindchen, das hab ich dir doch nun oft genug erklärt. Natürlich brauchst du einen Mann, der dir eine gesellschaftliche Stellung und Ansehen ermöglicht. Du hast ja keinen entsprechenden Beruf dafür. Mit einem anständigen Mann, der dir das auch bieten kann, wirst du auch aufhören ständig zu grübeln. Ansehen und eine ordentliche Stellung, das sind die Grundpfeiler für Glück.“

Dann musst du ja sehr glücklich sein,“ murmelte Lele.

Kindchen bitte, sprich deutlich mit deiner Mutter.“

Für mich sind andere Sachen wichtig, um glücklich zu sein“, sagte Lele und war kurz davor, zu explodieren.

Und was bitte soll das sein? Schlitten fahren?“

Zum Beispiel“, gab Lele trotzig zur Antwort. „Ich möchte nicht mein Leben damit vergeuden, Dingen hinter her zu rennen, die mir nichts bedeuten.“

Kindchen bitte, verschone deine Mutter mit diesem Quatsch. Vertrau meiner Erfahrung, dann wirst du schon sehen. Eine Mutter weiß sehr genau, was eine Tochter braucht.“

Manchmal habe ich das Gefühl, du kennst mich gar nicht. Du redest nicht mit mir, du hörst mir nicht zu. Du weist nicht, welche Gedanken mich beschäftigen. Woher willst du also wissen, was ich brauche? Da kennen mich andere wesentlich besser als du.“ Kaum hatte sie den letzten Satz ausgesprochen, tat er ihr auch schon leid.

Kindchen, bitte. Wer soll eine Tochter besser kennen als eine Mutter? Dieser Nikolaus etwa? Oder deine neuen Freunde, diese Einsiedler mit ihrem winzigen Hof? Mach die nicht lächerlich. Bestimmt haben die dir dieses ganzen Quatsch von Zufriedenheit und Glück erzählt. Vergiss nicht, solche Leute haben bei den Menschen gelebt. Deren Gedanken sind vergiftet. Nein, das ist bestimmt kein Umgang für dich. Am Ende landest du noch auf so einem Hof. Ich bitte dich, denk doch auch mal an mich dabei.“

Unbekannte Folgen

Und wir Dorfbewohner schätzen und achten unsere Wichtel sehr, auch wenn sie vermeintlich nur einfache Aufgaben erledigen. Aber sie sind zuverlässig, hilfsbereit und immer freundlich und lustig. Wir Dorfbewohner haben genauso unsere feste Aufgabe. Wir bewirtschaften unsere Felder, gehen Jagen und Fischen oder arbeiten im Wald oder im Bergbau. Andere verarbeiten die Rohstoffe und Grundnahrungsmittel dann weiter. So stellen wir alles was wir zum Leben brauchen selber her.

Jeder Arbeiter bekommt seinen Anteil. Wir tauschen und handeln unsere Waren untereinander. Auch wir sind mit dem zufrieden, was wir haben. Durch den Handel mit anderen Weihnachtsdörfern haben wir ein paar zusätzliche Annehmlichkeiten. Waren, die wir so nicht haben und die uns neue Möglichkeiten eröffnet haben. Aber auch das sind alles Waren, die nach unseren Werten und Vorstellungen hergestellt wurden. Das, was wir nicht für uns selber brauchen, verwenden wir, um die Geschenke für Weihnachten herzustellen.

Unser Rhythmus wird durch die Natur vorgegeben, unsere Werte sind Engagement für die Gemeinschaft, Miteinander, Familie, Kinder, Freunde und das Leben mit der Natur. Wenn wir durch Zeitmangel und Termindruck einen großen Teil davon aufgeben müssen, welche Auswirkungen hat das dann auf unser Leben?“

Die Frage war mehr an ihn selbst als an Kine gerichtet. Deswegen gab sie ihm auch keine Antwort darauf, sondern lenkte das Gespräch auf ein Thema, dass sie selbst sehr beschäftigte.

Einige von uns leben seit langer Zeit bei den Menschen. Sie organisieren die Geschenke, die wir nicht selbst herstellen wollen oder können. Bei uns gibt es keinen Strom, wir haben von elektrischen Dingen keine Ahnung. Deswegen haben wir entschieden, dass wir Dorfbewohner zu den Menschen schicken. Sie leben dort völlig unauffällig als Arbeiter, Angestellte, Schriftsteller, Musiker, Landwirte oder Fabrikbesitzer. Teilweise verwenden sie Waren aus dem Weihnachtsdorf für ihre Produkte. Es gibt Stimmen im Dorf, die fordern, dass Wissen und die Erfahrung dieser Leute zu verwenden, um unser Leben produktiver und effektiver zu gestalten. Was hältst du davon?“

Santa Claus blickte seine Frau erschrocken an.

Da halt ich gar nichts davon. Es gibt nur wenige im Dorf, die überhaupt wissen, das Dorfbewohner bei den Menschen leben. Wir haben damals aus gutem Grund entschieden, das möglichst wenige davon wissen sollen. Weder bei uns im Dorf, noch die Menschen sollen davon wissen. Bis jetzt sind wir sehr gut damit gefahren. Auch diese Folgen können wir nicht abschätzen.“

Was willst du also den Leuten auf der Versammlung erzählen?“, fragte Kine.

Ich würde gerne vor den Gefahren, die ich sehe, warnen. Aber dann müsste ich zugeben, dass wir mit den Menschen Kontakt haben, das wir mitten unter ihnen leben.“

Kine stand auf und packte Essen und Geschirr wieder in ihren Korb. Santa Claus sah ihr wortlos zu.

Ich für meinen Teil seh da nur zwei Lösungen. Entweder du lüftest das Geheimnis, oder du holst dir Hilfe.“

Hilfe könnt ich in der Tat gebrauchen“, gab Santa Claus zu. „Nur wen weihe ich außer dir noch in meine Gedanken ein. Es müsste jemand sein, der unsere Geheimnisse kennt und der genug Erfahrung hat, mit so schweren Entscheidungen umzugehen.“

Oder jemand, der gut Geschichten erzählen kann“, ergänzte Kine die Gedanken ihres Mannes ganz beiläufig.

Komm, wir gehen nach Hause, vielleicht fällt dir an der frischen Luft ja eine Lösung ein.“

Das mit dem Geschichtenerzähler ist eine gute Idee, aber auch da fällt mir niemand ein. Ich müsste ihn ja auch einweihen“, antwortete Santa Claus, zog seinen Mantel an und folgte Kine nach draußen.

Sie ließen den Schlitten stehen und gingen zu Fuß nach Hause.

Ja, du hast vermutlich recht“, nahm Kine das Gespräch nach einer Weile wieder auf. „Es müsste jemand sein, dem du vertraust, der die Menschen und unsere Kontakte dort kennt, der Erfahrung hat und gut Geschichten erzählen kann. Mir fällt auch niemand aus dem Ausschuss ein, der alle Anforderungen erfüllt.“ Sie betonte dabei absichtlich das Wort Ausschuss.

Plötzlich blieb Santa Claus stehen und seufzte theatralisch.

Ein Mann hat es wirklich schwer, wenn seine Frau so klug ist.“

Kine lächelte ihn an. Es war seine Art, ihr Komplimente zu machen. Mit der Zeit hatte sie diese Art lieben und schätzen gelernt.

Santa legte den Arm um seine Frau und gab ihr einen Kuss. „Meinst du, Topa ist noch wach?“ grinste er.

Abends im Postamt

Santa Claus saß im Postamt hinter seinem Schreibtisch. Gestern hatte die Kommission ihre erste Sitzung. Und da es auch die einzige Sitzung vor der großen Versammlung war, war es um so ärgerlicher, dass sie sich nicht hatten einigen können. Genauso wie bei den Dorfbewohnern gab es auch in der Kommission unterschiedliche Auffassungen, wie die Probleme im Dorf gelöst werden sollten.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Kine, die ihm das Abendessen brachte.

¨Schon so spät¨, murmelte er schuldbewusst zur Begrüßung.

¨Ja¨, antwortete Kine. ¨ Aber du hast ja eine verständnisvolle und fürsorgliche Frau.¨

Es kam nicht oft vor, dass sie ihm Abends das Essen ins Postamt brachte. Kine stellte den Korb mit dem Essen auf den Schreibtisch, nahm einen Stuhl aus der Ecke und setzte sich Santa Claus gegenüber.

¨Gestern Abend war es spät und heute morgen warst du schon vor dem Frühstück wieder auf dem Weg ins Postamt. Hat die Sitzung den wenigstens etwas gebracht?¨, wollte Kine wissen.

¨Leider nein¨, antwortete Santa und gab ihr eine kurze Zusammenfassung von gestern Abend.

¨Morgen ist die große Versammlung. Da sind noch mehr Leute da und es wird noch mehr unterschiedliche Meinungen geben. Wie wollt ihr da eine Lösung finden?¨, frage Kine weiter.

Er blickte sie ratlos an und machte sich über den Eintopf her. Auch Kine nahm sich eine Portion.

Sie lies ihn eine Weile mit seinen Gedanken allein, dann bat sie ihn, laut zu denken.

¨ Zum einen denke ich¨, begann Santa Claus, ¨dass wir nicht zu viel von dem aufgeben dürfen, was unser Leben ausmacht. Im Gegensatz zu den Menschen haben wir keine Zeit. Klar, es gibt Tage und Jahreszeiten. Aber wir teilen weder das Jahr in Monate ein, noch die Woche in Tage oder den Tag in Stunden. Wenn ich etwas von jemandem brauche, gehe ich einfach zu ihm. Wir Dorfbewohner wissen auch ohne Stunden und Minuten, ob derjenige gerade auf der Arbeit oder zuhause ist. Wir brauchen auch keine feste Zeit, wann wir von der Arbeit nach Hause gehen. Das Essen ist fertig, wenn wir die Tür aufmachen. Für die Menschen wäre das Magie. Aber bei uns im Weihnachtsdorf funktioniert das Leben schon immer so. Wir brauchen keine festen Termine und eine Zeiteinteilung wie die Menschen. Einige sind der Meinung, wir sollten feste Termine bei uns haben. Andere meinen, dass würde uns ähnlich wie den Menschen nur Hektik und Druck bringen.¨

¨ Und wie ist deine Meinung dazu?¨, fragte Kine als Santa Claus eine kleine Pause machte.

¨ Ich denke, das würde unseren Rythmus und unsere Lebensweise grundlegend verändern. Und das Problem, dass wir durch das Verhalten der Menschen haben, würde sich dadurch auch nicht lösen lassen. Die Arbeit würde nicht weniger, wir würden nur auf eine andere Art und Weise versuchen, damit fertig zu werden. Das würde aber nur funktionieren, wenn wir Tag und Nacht arbeiten. Dann bleibt wieder keine Zeit für Familie, Freunde und die Dorfgemeinschaft. Wir würden dann nur leben um zu arbeiten. Dann hätten wir zwar alle Geschenke rechtzeitig bei den Menschen. Aber wir müssten dann auch unsere Landwirtschaft und die Produktion unserer Waren und Produkte ändern. Wenn die Bewohner keine Zeit mehr haben, ihren Garten zu bewirtschaften und sich zum Teil selbst zu versorgen, brauchen wir zusätzlich Rohstoffe, Waren und Arbeitskräfte dafür. Die Felder z.B. Könnten dann nicht mehr nach der Drei-Felder-Regel bewirtschaftet werden. Die Böden könnten sich nicht mehr erholen und wir wären irgendwann vielleicht gezwungen, mehr zu düngen.¨

Kine lies ihrem Mann etwas Zeit, bevor sie ihm die nächste Frage stellte.

¨ Und was beschäftigt dich in diesem Zusammenhang noch?¨

¨ Ich habe Bedenken, dass durch diese Hektik und den Druck der dadurch entsteht, unsere Zufriedenheit verloren geht. Zumindest bei einigen. Die Menschen würden unsere Leben als glücklich beschreiben. In Wirklichkeit ist es aber die Zufriedenheit jedes einzelnen mit seinem Leben, die unser Leben trägt. Jeder hat genug zu Essen, eine Hütte mit Garten. Jeder hat eine feste Aufgabe und weiß, wo sein Platz in der Gemeinschaft ist. Die Wichtel Zum Beispiel sind für alles zuständig, wofür man Fleiß, Kraft, Ausdauer und viel Organisationstalent braucht. Wenn die kleinen Wesen arbeiten können, dann sind sie glücklich und zufrieden. Mehr als ihren Lebensunterhalt verdienen und anderen helfen wollen sie nicht und sind mit wenig zufrieden. Zwei Dinge vertragen sie gar nicht: keine Arbeit und Einsamkeit. Wichtel arbeiten und leben immer in Gruppen und halten fest zusammen.“