Archiv für den Monat: Dezember 2019

24/2019 Gedanken eines Kobolds

Tomte Tumetott tat, was Tomte Tumetott immer tat. Er saß unbemerkt, weil ungesehen, auf dem Kaminsims in der Wohnstube auf Livdröm und verfolgte die Gespräche. Als Kobold des Weihnachtsdorfs war es seine Aufgaben, die Bewohner zu beschützen und ihnen als Ratgeber unter die Arme zu greifen. Dabei verlangte es der Ehrenkodex aller Kobolde, dass er sich niemals direkt einmischen durfte. Das bedeutete, dass er keine Lösungen präsentieren durfte. Seine Aufgabe war es, mit den richtige Fragen die Dorfbewohner dazu zu bringen, sich selbst die richtigen Fragen zu stellen. So sollen die Bewohner die für sie richtigen Antworten und Lösungen finden.

Für die Menschen auf der Erde war er nur eine Figur aus einem Buch von Astrid Lindgren. Hier wachte er als Wichtel über einen Bauernhof. Und die Menschen dankten es ihm mit einem Teller Hafergrütze.

Das es ihn wirklich gab, dass er hier im Weihnachtsdorf eine ähnliche Aufgabe hatte und dass Hafergrütze wirklich seine Leibspeise war, war wohl weitestgehend unbekannt.

Tomte Tumettot fragte sich, was hier eigentlich los war. Scheinbar war gerade Hochkonjunktur für Fragen. Deswegen entschied er sich, mit dem anzufangen was nicht in Frage stand. Warum Fynn an Jytte dachte und Lele bei den ganzen Gesprächen nicht dabei war, war klar. Doch damit war dieser Teil auch schon erledigt.

Für folgende Fragen musste er die richtigen Fragen finden.

Lag Santa Claus mit seiner Einschätzung richtig, es handele sich um eine Spaltung der Dorfbewohner? Und falls nein, was war es dann? Und warum fiel es den Dorfbewohnern so schwer, unterschiedliche Ansichten gelten zu lassen? Dass das sonst nicht so war, damit hatte Santa Claus recht.

Würde Vendela und Boje erkennen, dass die notwendige Verstärkung auf Livdröm zum Greifen nah war und letztlich nur von ihrer eigenen Einstellung dazu abhing?

Würde Fynn die anderen überzeugen können, Opa Kester und Jytte nach Livdröm zu holen? Und würde er für sich die richten Schlüsse daraus ziehen, dass er jetzt an Jytte dachte und nicht an Lele?

Um Lele machte er sich ernsthafte Sorgen. Warum konnte sie einfach nicht erkennen, was ihr wichtig war? Warum war Lele so getrieben von der Suche nach etwas, dass sie selbst nicht beschreiben konnte? Was war notwendig, um ihr die Augen zu öffnen, dass sie alles was sie braucht um zufrieden zu sein schon hatte?

Was Fynn und Paola anging, war die Sache vergleichsweise einfach. Fynn brauchte nur eine Aufgabe die es ihm erlaubte seine Familie zu versorgen. Und Paola brauchte nur noch einen kleinen Schubs um sich endgültig für ein Leben als Kräuterfrau und Heilerin zu entscheiden.

Für einen alten Kobold war das ziemlich viel Arbeit. Die meisten Fragen musste parallel gestellt und beantwortet werden. Er brauchte Unterstürzung. Es wurde Zeit für eine Tasse mit seiner alten Freundin Oma Lerke. Naja, vielleicht auch eine große Tasse Tee.

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Und so endet die Geschichte für dieses Jahr mit einer Reihe offener Fragen. Ich bin mal gespannt auf die Antworten.

Und genau damit geht’s nächstes Jahr weiter.

Danke, dass du dieses Jahr mit dabei warst. Frohe Weihnachten, ruhige Feiertage und die richtigen Fragen für dich für das nächste Jahr.

Viele Grüße Philipp

23/2019 Noch mehr Fragen

Boje setzte sich zu Topa, Onkel Pelle und Santa Claus. Kurz darauf gesellte sich auch Fynn dazu.

„Dann ist die Männerrunde ja komplett“, versuchte Onkel Pelle zu scherzen.

„Das trifft sich gut“, sagte Santa Claus. „Ich wollte mit euch über die Versammlung sprechen. Wie ist denn eure Meinung zur Zukunft unseres Weihnachtsdorfs?“

„Ehrlich gesagt haben Vendela und ich noch nicht darüber gesprochen. Wir haben unsere eigenen Probleme auf Livdröm. Und die liegen ganz wo anders. Wir müssen schauen, wie wir über die Runden kommen und für uns noch genug zum Leben übrig bleibt. Wir schaffen die Arbeit alleine gerade so; Helfer können wir uns nicht leisten. Wir könnten mehr verkaufen, wenn wir mehr produzieren könnten. Doch da fehlt uns wieder das Kapital dafür.“

„Paola und ich haben uns auch noch keine Gedanken dazu gemacht“, fuhr Fynn fort und schilderte die Situation.

„Aber hatten wir nicht vor drei oder vier Sommern eine ähnliche Versammlung?“ fragte Fynn.

„Das stimmt“, pflichtete Santa Claus ihm bei. „Damals haben sich alle Bewohner für unsere traditionelle Lebensweise ausgesprochen.“

„Und dafür, nicht noch mehr Geschenke zu liefern“, mischte sich Onkel Pelle ein.

„Was ist denn aus den guten Vorsätzen geworden?“, fragte Fynn.

„Nun“, sagte Santa Claus. „Ich denke es ist wie so oft mit guten Vorsätzen. Sie funktionieren eine Weile und dann läuft alles doch irgendwie anders.“

„Aber scheinbar sind nicht wenige Dorfbewohner dafür, doch mehr zu leisten als früher und die Tradition dafür zu opfern, oder?“, sagte Topa.

„Sicher“, stimme Santa Claus zu. Am liebsten hätte er leider statt sicher geantwortet.

„Dann lasst uns doch einfach abstimmen und die Mehrheit entscheidet“, schlug Topa vor.

Santa Claus zuckte kurz zusammen. Eine Abstimmung hielt er für falsch. Sie würde nur die Spaltung im Dorf weiter vorantreiben und für alle sichtbar machen. Er war sich nicht sicher, ob das der richtige Weg war.

Fynn fragte sich, ob er hier im Dorf wirklich Fuß fassen könnte und mit Paola hier leben konnte. Und wie er seine kleine Familie würde ernähren können.

Boje fragte sich, wie er und Vendela von dem profitieren könnten was gerade im Dorf passierte. Bei mehr Bewohnern müssten sich doch auch mehr Waren verkaufen lassen. Und wer ihm auf Livdröm helfen könnte.

Fynn fragte sich, ob Lele es verstehen würde, dass er vollkommen damit zufrieden war, weiter als Nikolaus zu arbeiten. Mit halbem Gehalt würde er im Sommer mehr arbeiten annehmen müssen und hätte weniger Zeit für sie. Ob Boje ihm Aufträge geben könnte? Und er fragte sich, ob Jytte und Opa Kester nicht gut nach Livdröm passen würde. Wieso dachte er jetzt an Jytte?

Onkel Pelle fragte sich, warum keiner mehr was sagte und das Gespräch so plötzlich beendet war. Und er fragte sich, wie er Topa im Sommer ein paar Aufträge würde zukommen lassen können. Bei mehr Arbeit im Dorf waren die Nikoläuse im Sommer mit ihren Schlitten als Fahrer für allerlei Aufträge sehr gefragt.

22/2019 Und bei euch so?

Während Topa, Onkel Pelle und Santa Claus ihr Gespräch in der Wohnstube weiter führten unterhielten sich Paola, Vendela, Tante Unn und Oma Lerke in der Küche. Die Frauen hatten sich hier her zurück gezogen um ungestört zu sein.

„Wie lange wirst du noch arbeiten kommen?“ fragte Tante Unn und blickte dabei auf Paolas Bäuchlein.

„Solange es geht“, antwortete Paola. „Wenn mir der Weg in die Backstube zu beschwerlich wird, wird Topa mich fahren, das habe ich schon mit ihm abgestimmt.“

„Ich könnte vielleicht ab und an in der Backstube aushelfen. Im Winter ist auf Livdröm nicht so viel zu tun; das schafft Boje auch mal einen Tag alleine. Oma Lerke hilft mir mit den Kindern und ich könnte ein wenig Abwechslung gut brauchen“, sagte Vendela.

„Das ist sehr lieb von dir“, antwortete Tante Unn. „Vielleicht komme ich tatsächlich darauf zurück.“

„Bitte“, flehte Vendela. „Ich brauche dringend etwas Abwechslung und Leute um mich. Ich liebe Livdröm, aber das Leben hier ist auch ziemlich einsam. Zumindest die meiste Zeit über.“

Tante Unn legte ihr liebevoll eine Hand auf die Schulter und versprach ihr sich zu melden, sobald sich etwas ergeben würde.

„Und nach der Geburt? Wie geht es dann bei euch weiter?“ fragte sie Paola.

„Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Fynn schlägt sich mit Gelegenheits- und Aushilfsarbeiten durch. Nebenbei geht er jagen und verkauft die Felle und das Fleisch. Ob ihn das auf Dauer zufrieden stellt weiß ich nicht.“

Oma Lerke legte die Stirn leicht in Falten. Sie hatte gehofft Paola würde sich endgültig dafür entscheiden Kräuterfrau zu werden. Sie wollte all ihr Wissen und ihre Erfahrung an jemanden weitergeben.

„Als Kräuterfrau könntest du auch während der Schwangerschaft arbeiten. Das Wissen über Pflanzen und ihre Kräfte hat dir bis jetzt schon sehr geholfen. Da gibt es noch viel mehr zu entdecken“ versuchte sie das Gespräch in ihre Richtung zu lenken.

„Das stimmt“, pflichtete Paola ihr bei und musste schmunzeln.

„Wir wollen auch mit lachen“, sagte Vendela.

„Die Burschen die mich entführt hatten waren nicht die hellsten im Kopf. Ich habe Ihnen als kleine Rache mit ein paar Kräutern einen ordentlichen Durchfall verpasst.“

Paola erzählte kurz die gesamte Geschichte. Das gemeinsame Lachen tat den Frauen gut und entspannte etwas die Situation.

Auch während ihrer Gefangenschaft und erst recht auf der Rückreise hatte Paola mit Hilfe von Kräutern und Heilpflanzen sich zu helfen gewusst und nicht zuletzt Fynns Leben gerettet.

„Aber bevor Fynn und ich nicht wissen wie es weitergeht, kann ich dir leider nichts versprechen“, sagte sie zu Oma Lerke.

„Wo wollt ihr eigentlich wohnen? Die Hütte am See ist doch viel zu klein oder?“ fragte Vendela. Ihr war spontan die Idee gekommen, Vendela und Fynn nach Livdröm zu holen. Nur wie und warum und was die beiden hier machen sollten wusste sie noch nicht.

„Und viel zu weit weg wenn ihr Hilfe braucht“, gab Tanta Unn zu bedenken.

„Wir wissen ja nicht mal, wem die Hütte eigentlich gehört. Wir haben uns da einfach eingenistet. Und mit dem Baby wird es da auf Dauer zu eng. Spätestens wenn er oder sie anfängt zu krabbeln ist kein Platz mehr da.“

21/2019 Neue Verbündete

„Pal ist ein Feigling. Und ein Schwächling. Er ist nur erster Offizier, weil er brutal und skrupellos ist wie sonst keiner an Bord. Der Kapitän braucht jemanden, um die Mannschaft unter Kontrolle zu halten. Du bist ein richtiger Anführer, einer der nicht durch Angst und Macht, sondern als Vorbild führt. Die Männer spüren das. Und Pal auch. Deswegen wird er dich klein halten. Er braucht dich als Zimmermann und als Kämpfer an Bord. Mit ihm hier hat er deinen schwachen Punkt gefunden und wird das gnadenlos für seine Zwecke ausnutzen.“

Fynn nickte. Jetzt ergab so einiges Sinn. Pal hatte Caper bestrafen lassen, um ihn zu treffen. Er musste zukünftig noch mehr auf der Hut sein und das in seine Überlegungen und Handlungen mit einbeziehen. Tage schien die Wahrheit zu sagen. Zumindest hatte Fynn den Eindruck, dass er dem Koch vertrauen konnte, wenn auch noch nicht bedingungslos.

„Die Mannschaft ist gespalten“, fuhr Tage fort. „Die eine Hälfte will meutern gegen Pal, die andere kriecht ihm lieber in den Arsch, klar soweit?“

„Wie kann ich wen von wem unterscheiden?“

„Ich kann dir eine handvoll Matrosen vorstellen, die dich unterstützen würden.“

„Moment. Wer sagt denn, dass ich meutern will?“

„Ay. Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Pal wird dich irgendwann töten oder verkaufen.“

„Verkaufen?!“, rief Fynn.

„Ay, verkaufen. Die Marten ist ein Piratenschiff. Woldemar stiehlt und raubt was er kriegen kann. Dann verkauft er, was er zu Geld machen kann. Wenn es sein muss auch Menschen.“

„Warum fahren dann überhaupt Matrosen unter ihm zur See?“

„Weil sie keine Wahl haben. Du hast den Hafen und die Stadt gesehen. Woldemar ist der einzige der Ihnen Arbeit bietet. Er lässt ihre Familien ‚beschützen‘. Sprich er hat sie, genauso wie den Rest der Stadt in der Hand. Alle hier an Bord haben keine andere Wahl, wenn sie ihre Familien über die Runden bringen wollen. Alle außer dir.“

Nachdem Fynn nicht gleich antwortete, fuhr Tage fort:
„Ich kann euch ab und an eine Zusatzration Essen zuteilen. Vor allem den Jungen hier müssen wir zu essen geben. Unter seinem weitem Hemd wird es nicht auffallen, wenn er etwas zulegt, ay?“

Fynn nickte.

„Danke“; sagte er. „Aber ich habe mich noch nicht entschieden.“

Tage klopfte ihm auf die Schulter und ließ die beiden alleine.

Fynn betrachtete Casper. Alleine würde er mit der Situation an Bord besser klar kommen. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich für den Jungen verantwortlich. Sein Wunsch sein altes Leben hinter sich zu lassen war so stark, dass er die nächste beste Chance ergriffen hatte. Mit seiner Erfahrung hätte er eigentlich die Ungereimtheiten entdecken und gewarnt sein müssen.

Er beschloss mitzuspielen. Er hatte Verbündete und Unterstützung. Damit würde er es schaffen, bis sie im nächsten Hafen vor Anker gingen. Dann würde er sich heimlich von Bord schleichen. Seine Flucht war also noch nicht zu Ende. Insgesamt war seine Lage aber gar nicht so schlecht und er war zuversichtlich, das Ganze schnell zu einem relativ guten Ende zu bringen.

20/2019 Wunden lecken vereint

Fynn stand alleine an Deck. Pal hatte mit ein paar kurzen Befehlen die Mannschaft wieder an die Arbeit gescheucht. Casper lehnte bewusstlos am Mast, gehalten nur von seinen Fesseln. Fynn band ihn los und trug ihn zu ihren Schlafplätzen. Er legte den immer noch Bewusstlosen auf dessen Decke und machte sich auf die Suche nach einer Kerze und etwas Wasser.

Als er zurück kam, lag Casper wimmernd, aber mit offenen Augen, wie ein Baby auf seiner Decke. Fynn hielt ihm den Krug mit Wasser an die Lippen und gab ihm in kleinen Schlucken zu trinken.

„Kannst du dich aufsetzen? Ich möchte mir deinen Rücken anschauen“, sagte Fynn. Er half Casper sich aufzurichten und zog ihm das Hemd aus. Fynn erschrak. Der Junge war nur Haut und Knochen. Unter dem weiten Hemd war es niemandem aufgefallen, wie abgemagert und schwach er war. War Pal das beim anheuern nicht aufgefallen oder hatte er es einfach ignoriert? Einen so schwachen Matrosen an Bord zu nehmen machte aus seiner Sicht keinen Sinn. Fynn hörte ein Geräusch hinter sich. Er drehte sich um und packte den Mann am Kragen.

„Was willst du?“, fragte er ihn.

„Ganz ruhig“, antwortete der Matrose. „Ich bin Tage, der Smut an Bord.“

„Smut?“

„Koch“, antwortete Tage. „Hier etwas Brot und Schmalz. Wie ich sehe kann der Junge das gut vertragen.“

Fynn nahm das Brot und reichte es Casper. Während der es verschlang musterte Fynn den Koch.

„Warum hilfst du uns?“, wollte Fynn wissen.

„Ich kenne dich. Dein Name ist Fynn. Du warst der Hautpmann in Ogre.“

Fynn fuhr es kalt den Rücken runter. Er hatte gehofft weit genug von Ogre entfernt zu sein, so dass ihn niemand erkennen würde und er unbemerkt fliehen konnte.

„Du kommst aus Ogre?“

„Ay. Ich war dort Koch im Brandt.“

„Im Brandt? Meine Soldaten waren dort untergebracht. Aber dich hab ich da nie gesehen.“ Fynn war immer noch misstrauisch.

„Ich dich auch nicht. Aber deine Männer haben nur gut von dir gesprochen.“

„Nenn mir ein paar Namen.“

Tage nannte ihm ein gutes Dutzend Namen und konnte die Soldaten dazu gut beschreiben. Die Geschichte schien zu stimmen.

„Okay, du weißt also wer ich bin. Aber warum hilfst du mir dann?“

„Ich habe gesehen wie du den Krug mit Wasser da aus der Messe gestohlen hast. Wenn das rauskommt darfst du dreimal raten auf wen der Verdacht fällt. Pal wartet nur auf die nächste Gelegenheit dich oder den armen Jungen da zu schikanieren.“

Bei der Erwähnung von Pals Namen zuckte Casper zusammen.

„Warum tut er das?“, flüsterte der Junge ängstlich.

„Weil er Angst hat“, antwortete Tage. „Angst vor dir“, sagte er dann zu Fynn.“

Beide blickten den Koch verständnislos an.

19/2019 Schwachstelle gefunden

Fynn wurde bäuchlings an den Mast gebunden. Pal hatte die gesamte Mannschaft der Marten zur Bestrafung antreten lassen.

„Dies soll eine Warnung an Alle sein. Haltet euer Maul und redet nur wenn ihr gefragt werdet.“

Pal gefiel sich in der Rolle als absoluter Herrscher an Bord.

„Strafe muss ein. Aber ich bin kein Unmensch“, führte er seinen Monolog fort. Er hielt Fynn ein Stück Rundholz hin.

Fynn schüttelte den Kopf.

„Dann los“, befahl Pal und positionierte sich so, dass er Fynn ins Gesicht schauen kann.

Einer der Unteroffiziere trat mit der Gerte in der Hand hinter Fynn. Dann holte er aus und schlug zu. Fynn hatte sich auf den Schlag vorbereitet. Als Soldat hatte er an ähnlichen Bestrafungen teilgenommen und wusste so was auf ihn zu kam. Den zweiten Schlag platzierte der Unteroffizier knapp unter dem ersten. Ebenso den dritten und den vierten Schlag.

Pal beobachtete Fynn. Er konnte keinen Schmerz in seinem Gesicht erkennen.

„Härter!“

Der Unteroffizier gehorchte. Pal wartete drei weitere Schläge ab. Noch immer konnte er in Fynns Gesicht nicht das erkennen was er suchte.

„Jetzt!“, bellte er den nächsten Befehl.

Der nächste Schlag traf Fynn genau an der selben Stelle wie der davor. Jetzt konnte Pal den Schmerz in Fynns Blick erkennen. Doch er war noch nicht gebrochen. Und das blieb auch bis zum zehnten Schlag so.

Pal bickte sich um. Seine Augen suchten Casper.

„Der da bekommt auch Fünf.“

Zwei Matrosen schleiften Casper zum Mast und fesselten ihn gegenüber von Fynn.

„Stop!“ befahl Pal als der Unteroffizier gerade zuschlagen wollte. Er zeigte auf Fynn.

„Bindet ihn los. Keiner soll sagen, Pal sei nicht fair.“ Und an Fynn gewandt: „Wegen dem Trottel hast du die Schläge bekommen. Da ist es doch nur fair, wenn du dich revanchieren kannst.“

Fynn Gedanken rasten und suchten nach einem Ausweg. Er zögerte. Pal trat ganz nah an ihn heran. Fynn konnte seinen fauligen Atem auf der Haut spüren.

„Entweder fünf von dir oder zwanzig von mir“, flüsterte er leise.

Fynn hatte keine Wahl. Er unterdrückte seine Wut um die Schläge danach besser kontrollieren zu können.

Er schlug zu. Casper schrie auf. Fynn schlug wieder zu. Wieder schrie Casper. Pal musterte Fynn genau. Casper interessierte ihn nicht. Der war nur Mittel zu Zweck. Nach dem dritten Schlag glaubte Pal eine Veränderung im Blick von Fynn zu erkennen.

Nach dem vierten Schlag fiel Casper in Ohmacht. Fynn blickte zu Pal.

„Einer fehlt noch“, grinste der.

Nach dem Schlag ließ Fynn die Gerte einfach fallen. In seinem Gesicht mischten sich Wut, Verzweiflung und Machtlosigkeit. In ihm sah es nicht besser au.

Pal hatte gefunden was er gesucht hatte.

18/2019 Geburtstag auf Livdröm

Einige Tage später trafen sich die Freunde wieder auf Livdröm. Vendela und Boje wollten den Geburtstag ihrer Zwillinge feiern. Tochter Elin und ihr Bruder Keld waren nun seit zwei Sommern der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Eltern hatten alle Hände voll zu tun, die beiden im Auge zu behalten. Auf Livdröm gab es jede Menge für die beiden zu entdecken. Mit ihren kurzen Beinchen filzten sie kreuz und quer über den Hof und kletterten auf alles was sie finden konnten. Besonders hatten es Ihnen die Tiere angetan. Der Hahn auf Livdröm hatte sich heftig gewehrt als Keld auf ihm reiten wollte und dem Jungen mit dem Schnabel ordentlich in den Arm gepiekt. Vendela machte sich deswegen heute noch Vorwürfe. Boje sah das viel gelassener. Seiner Meinung nach gehörte das einfach dazu und so lange nichts schlimmeres passierte, nahm er es mit Humor.

Nach und nach trafen die Gäste ein. Natürlich waren Paola und Fynn sowie Lele und Topa gekommen. Oma Lerke was schon den ganzen Tag da und hatte die Küche übernommen. Tante Unn und Onkel Pelle kamen mit ihren Kindern Orge und Ove und deren Schwester Ova. Die beiden Jungs stürzten sich sofort auf ihren Onkel Topa. Santa Claus kam in Begleitung seiner Frau Kine. Sogar Leles Vater Lennard war gekommen.

Nach dem Essen kam es zu dem Gespräch, dass Topa schon lange befürchtet hatte. Onkel Pelle und Santa Claus setzten sich zu ihm.

„Du schuldest deinem Onkel zwei Rentiere und dem Postamt einen Schlitten“, eröffnete Santa Claus das Gespräch.

„Als Chef vom Postamt und aller Nikoläuse im Weihnachtsdorf muss ich mit dir darüber reden.“

Topa war das mehr als peinlich. Für einen Nikolaus gab es nichts schlimmeres als sich einen Schlitten samt Rentiere klauen zu lassen.

„Erzähl uns doch erst mal wie das passiert ist“, versuchte Onkel Pelle etwas Druck von Topa zu nehmen. „Dann finden wir bestimmt eine Lösung.“

Topa erzählte wie er sich auf dem Heimweg nach Paolas Befreiung mit dem Schlitten aufgemacht hatte um Hilfe zu holen. Fynn war schwer verwundet worden und es stand nicht gut um ihn. Er erzählte wie er den eigentlich verlassenen Hof von Opa Kester gefunden hatte und dort von drei Banditen überlistet wurde. Als er am nächsten morgen aufwachte, waren die drei mit seinem Schlitten und den Rentieren verschwunden.

„Die Rentiere brauchst du mir nicht zu ersetzen“, sagte Onkel Pelle.

„Danke“, erwiderte Topa und war sichtlich erleichtert.

„Bedanke dich bei deiner Tante Unn“, murmelte Onkel Pelle.

„Den Schlitten musst du dem Postamt ersetzen, da habe ich keine andere Wahl. Ich hoffe due verstehst das“; sagte Santa Claus.

„Du kannst die beiden nächsten Winter mit deinem eigenen Schlitten fahren, die Rentiere stellen wir dir zur Verfügung. Dafür bekommst du nur den halben Lohn.“

„Ich darf also weiter als Nikolaus arbeiten?“, fragte Topa.

„Du bist einer der besten Nikoläuse und einer der fleißigsten. Und wir haben zu wenig Nikoläuse. Also ja, du darfst weiter als Nikolaus arbeiten. Aber sei dir gewiss, dass die anderen dich unter besondere Beobachtung stellen werden. Und mich auch“, antwortete Santa Claus.

Topa war erleichtert. Er hatte fest mit seiner Entlassung gerechnet. Manchmal zahlt sich gute Arbeit eben doch aus.

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p.s.: Twins, Alles Gute zum Geburtstag. Party on!!!

17/2019 Keiner versteht mich

Lele schmollte. Das Leben ist die Herausforderung. So ein Blödsinn. Sie war zutiefst von Fynn enttäuscht. Gerade er müsste sie doch verstehen. Und Topa hatte auch noch flüsternd zugestimmt. Wie ein Feigling hatte er sich hinter Fynns Aussage versteckt. Eigentlich spielte es keine Rolle, aber er war nun mal ihr Freund. Und da konnte sie ja wohl ein wenig Beistand erwarten. Und wenn er schon anderer Meinung war als sie, dann sollte er wenigstens die Klappe halten und ihr nicht in den Rücken fallen.

Oma Lerke konnte Leles Gedanken an ihrer Miene ablesen.

„Es ist schon spät für eine alte Frau. Lele könntest du mich nach Hause bringen? Ich würde heute gerne in meinem eigenen Bett schlafen.“

Lele war es nur recht von hier weg zu kommen. So konnte sie Topa für den Rest des Abends aus dem Weg gehen.

Den ersten Teil der Heimfahrt verbrachten sie schweigend.

„Erinnerst du dich noch an deinen Großvater?“, fragte Oma Lerke.

„Kaum“; sagte Lele nach dem sie ihre Gedanken sortiert hatte. „Ich war ja noch recht klein. Ich weiß nur, dass ich immer gerne mit seinem riesigen Bart gespielt habe.“

„Ja, du warst erst fünf Sommer alt, als dein Großvater starb.“

„Ich habe diesen Bart so sehr geliebt. Vermisst du Großvater sehr?“

„Manchmal ja, manchmal nein. Wir hatten viele tolle Sommer zusammen. Und er hat mich geliebt, dass hat er mir immer wieder gezeigt. Manchmal fehlt mir seine Art, mir zu zeigen das er mich liebt. Dann gewinnt wieder die Erinnerung an ihn und seine Art mir zu zeigen das er mich liebt die Oberhand und die Freude darüber verdrängt die Trauer.“

„Wie war Großvater denn so?“ wollte Lele wissen.

„Dein Großvater war ein Eigenbrötler. Manchmal war er so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht ansprechbar war. Ich wusste dann nie, wo er gerade war oder was ihn beschäftigte.“

„Habt ihr nicht darüber gesprochen?“

„Manchmal ja, manchmal nein.“

„Und das hat dich nicht gestört? Man muss doch in einer Beziehung über alles reden!“

„Muss man das?“

Lele fragte sich, warum Oma Lerke das man so betonte.

„Als wir uns kennen lernten, fand ich das immer etwas seltsam. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass er diese Gedanken für sich alleine braucht, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Und er hat gemerkt, dass er mich da nicht ganz ausschließen darf. So haben wir uns arrangiert. An unseren Gefühlen für einander hat das nie etwas geändert.“

„Über was hat er denn so gegrübelt?“

„Meist ganz einfache Dinge die ihn beschäftigt haben.“

„Ach Oma, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“

„Es war meist unbedeutend, zumindest für ihn. Wichtig war das Ergebnis.“

„Omaaah.“

„Er hat über alles mögliche nachgedacht oder ist in seinen Träumen versunken. Ich glaube, vieles womit er mich überrascht hat ist ihm in solchen Momenten eingefallen.“

„Man muss doch seine Träume erzählen! Topa würde ich das nicht durchgehen lassen.“

„Sind es denn noch Träume, wenn man sie ausspricht? Und wenn sie sich dann nicht verwirklichen lassen? Einen Traum hat er sich verwirklicht. Er hat immer alles getan, damit wir zusammen leben können. Die anderen hat er meist für sich behalten.“

Lele dachte eine Weile nach.

„So eine Beziehung würde ich nie wollen, das kann doch gar nicht funtionieren.“

„Es war gewöhnungsbedürftig, sagen wir mal so. Nur den Bart habe ich nie gemocht.“

16/2019 Große Klappe

Pal stand an Deck und musterte die Mannschaft. Langsam schritt er durch die Reihen und betrachtete jeden von oben bis unten. Fynn hatte den Eindruck der 1. Offizier suche nach etwas.

„Rudergänger und Vorschoter auf eure Posten. Klar zum Anker lichten.“ Die Kommandos kamen klar und laut. Fynn versuchte sich die Abfolge der Kommandos genau einzuprägen und welcher Matrose sich wohin bewegte. Jetzt standen nur noch eine Handvoll Männer neben Fynn. Alles Frischlinge vermutete er.

„Klar zum Ablegen.“ – „Ist klar.“

„Klar bei Achterleine.“ – „Ist klar“

„Klar bei Anker.“ – „Ist klar.“

„Achterleine los.“ – „Ist los.“

„Hol Anker kurzstag.“ – „Anker ist kurzstag.“

„Heiß auf Anker.“

Die Männer an der Ankerwinde gaben alles. Fynn sah wie sich ihre Muskeln bis zum bersten anspannten.

„Anker an Bord.“

Pal hatte während der ganzen Zeit die Neulinge nicht aus den Augen gelassen.

„Ich hoffe ihr Landratten habt gut aufgepasst. Nochmal dulde ich nicht, dass ihr faul rumsteht und nur zuschaut. Klar soweit?“

Jetzt folgte eine Reihe Kommandos nach dem selben Muster um das erste Segel zu setzen. Zuerst das Großsegel, dann das Focksegel.

„Du da“, bellte Pal und zeigte auf Casper. „Du bist der Ausguck.“

Casper blickte ihn fragend an. Einer der Unteroffiziere die hinter Pal standen löste sich. Er ging auf Casper zu, schlug ihm ins Gesicht und brüllte:
„Na los, bist wohl schwerhörig. Ab in den Ausguck, oder muss ich dir Beine machen?“

Casper trat vor den Mast und versuchte hochzuklettern. Doch er war weder im Klettern geübt, noch hatte er genug Kraft dazu. Kaum war er ein kleines Stück den Mast hoch, rutschte er wieder nach unten.

„Los du fauler Hund. Der Erste wiederholt seine Befehle nicht. Oder willst du verweigern?“

„Ich mach das“, sagte Fynn.

Pal blieb regungslos stehen. Plötzlich traf Fynn ein Schlag in den Rücken.

„Wer hat dich gefragt du Klugscheißer?“ sagte eine Stimme hinter ihm.

Pal hob die Hand. Dann machte er ein paar Schritte auf Fynn zu, die Unteroffiziere folgten ihm.

„Sieh mal einer an. Da meint wohl jemand meine Befehle in Frage stellen zu können, hm?“

„Der Junge schafft das nicht, das ist zu gefährlich für ihn“ sagte Fynn.

Diesmal traf ihn nicht nur ein Schlag von hinten, den hatte er erwartet. Einer der Unteroffiziere rammte ihm einen Knüppel in den Magen. Fynn verfluchte sich. Er hatte sich nur auf Pal konzentriert. Ein Fehler den er nicht nochmal machen würde.

„Was gefährlich ist und was nicht, entscheide ich. Wenn er abstürzt hast du mehr Platz zum schlafen, ay?“

„Fünf Stockschläge“; befahl Pal.

„Wofür?“, fragte Fynn.

„Dafür, dass du das Maul aufgemacht hast ohne gefragt zu werden. Du hast Glück, dass ich heute einen meiner guten Tage habe und dich nicht wegen Befehlsverweigerung Kielholen lasse. Noch mal fünf für die dumme Frage. Möchtest du vielleicht noch etwas wissen, Klugscheißer?“

15/2019 Verdächtiges Erwachen

Ein Faust hämmerte gegen die Tür uns weckte Fynn. Draußen war es noch dunkel, in der kleinen Kammer lag die Kerze auf dem Nachttisch in ihrem letzten Atemzügen.

„Du musst los“, sagte die Dirne neben ihm.

Fynn stand auf. Er war, ebenso wie die Dirne, noch vollständig bekleidet. Er streckte sich, aber die Müdigkeit wollte nicht weichen.

„Danke für alles“, sagte er.

„Du hast dafür bezahlt.“

„Verrätst du mir zum Abschied deinen Namen?“

„Verrat´ ich dir, wenn du lebend zurück kommst. Und jetzt beeil dich.“

Fynn verließ die kleine Kammer und ging die Treppe hinunter in die Schankstube. In der Eingangstür zum Mermies stand einer der Offiziere der Marten. Vor ihm die Matrosen in einer Schlange. Der Wirt drückte jedem einen Kanten Brot und einen Krug Wasser in die Hand.

„Nächster“, rief der Offizier. „Name?“

Der Matrose trat auf den Offizier zu, nannte seinen Namen, der Offizier machte einen Hacken auf seiner Liste und das Spiel wiederholte sich.

Fynn überlegte, ob er seinen richtigen Namen nennen sollte.

„Ay, du musst der Klugscheißer sein“, sagte der Offizier als Fynn an der Reihe war. „ Viktigpetter ist mir zu lang. Du heißt ab so sofort Vik. Und jetzt scher dich raus.“

Vor dem Mermies hatte ein weiterer Offizier die Matrosen in Dreierreihe antreten lassen. Fynn war erstaunt. Soviel militärische Disziplin hatte er auf einem Handelsschiff nicht erwartet.

In einem halbwegs gleichmäßigen Gleichschritt ging es in Richtung Marten. Dort angekommen durften zuerst die altgedienten Matrosen an Bord. Als Frischling kam Fynn mit als letzter an die Reihe. Er folgte dem Matrosen vor ihm in den Schlafraum der Matrosen. Jetzt erkannte er auch den Sinn dahinter. Die altgedienten Matrosen konnten sich als erstes die besten Schlafplätze aussuchen. Für ihn und den Matrosen nach ihm blieben nur zwei kleine Nischen neben der Tür, direkt an der Bordwand. Jeder Matrose der kam oder ging musste zwangsweise an ihnen vorbei. Fynn fühlte sich in seine ersten Tage als junger Rekrut beim Militär zurück versetzt. Er würde sich wieder von ganz unten hocharbeiten müssen. Die Überfahrt würde also kein Zuckerschlecken werden, ganz im Gegenteil. Dem Frischling neben ihm würde es nicht besser ergehen. Er wirkte verängstigt und war längst nicht so stark wie Fynn. Ihn würden sie ganz besonders hart malträtieren. Fynn bekam Mitleid mit dem Burschen, der noch nicht mal erwachsen sein dürfte.

„Vik“, sagte er und reichte ihm die Hand.

„Casper“, sagte der nach einer Weile. Sein Händedruck war weich. Fynn beschloss so gut es ging auf den Kleinen aufzupassen.

„Bleib in meiner Nähe wenn du kannst.“

„Warum?“

„Zu zweit sind wir stärker“, sagte Fynn.

Casper schien nicht den Hauch einer Ahnung zu haben, was auf ihn zukommen würde.

„Na los ihr faulen Hunde. Genug ausgeruht. An Deck angetreten und zwar plötzlich“, rief einer der Offiziere. Wieder war Fynn über den militärischen Befehlston überrascht. Die Erklärung dafür würde er noch teuer bezahlen müssen; aber das wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.