Lele hielt die Luft an. Der Hauptmann streckte die Hand aus und zog an der Kette. Die Kette klirrte und das Schloss schlug gegen die Tür. Lele nutze den Krach für einen schnelle Atemzug.
Jetzt packten die großen Hände des Hauptmanns die beiden Torflügel. Er zog kräftig an den Griffen und die Tore begannen sich zu öffnen. Lele schloss die Augen. Nach wenigen Zentimetern hielt die Kette die beiden Tore fest. Zufrieden drehte sich der Hauptmann um und nickte dem Bürgermeister zu.
Beim nächsten Knall blieb der Hauptmann stehen und suchte den Himmel nach dem Uhu ab, der nun dreimal seinen einzigartigen Ruf ausstieß. Fynn und Jarkko nickten sich zu.
„Nun denn“, rief der Bürgermeister. „Lasst uns das Ganze schnell hinter uns bringen, meine Amtsgeschäfte dulden keinen weiteren Aufschub.“
Die Wachen hoben den Gefangenen vom Schlitten. Die Fusfesseln liesen auf dem Weg zum Henker nur kleine Schritte zu. Er watschelte mehr als er ging. Diese letzte Demütigung nahm er kaum war.
Die beiden Henkersgehilfen Jarkko und Fynn hoben den Mann auf den Schlitten und stellten ihn unter den Balken.
Der Henker zog ihm eine Kapuze über und legte umständlich den Strick um den Hals. Den Wachen war der Blick auf den Gefangenen versperrt.
„He da“, rief deswegen der Hautmann. „Was macht ihr da so lange?“
Der Henker hob sie Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Dann band der das Ende des Seils um einen Knauf am Schlitten.
Die beiden Knechte stiegen vom Schlitten und führten die Rentiere langsam ein paar Schritte nach vorne. Der Gefangene hing in der Luft. Zuerst ganz ruhig. Dann begann er leicht hin und her zu schaukeln. Schließlich zuckte der Mann einige Male. Dann hing er leblos und ruhig zu Beginn in der Luft. Die Gehilfen führten die Rentieren zurück und der Leichnahm kam auf dem Schlitten zu liegen. Der Henker bückte sich, fummelte an dem Leiche herum, hob den Arm und senkte den Daumen.
Lele hatte das alles beobachtet. Sie hatte sich ein Abenteuer gewünscht. Aber dass sie jetzt zusehen musste, wie Jarkko und Fynn den Mann – und jetzt auch noch Jytte? – kaltblütig ermordeten, wurde ihr schwindelig. Was hatte Fynn denn dann gemeint mit ‚Gewalt ist keine Lösung‘? Und wer war dieser Henker?
Sie blickte wieder auf den Hof und sah, wie Jytte von den Gehilfen auf den Schlitten gehoben wurde. Wieder trat der Henker vor sein Opfer, versperrte mit seinem Rücken den Blick der Wachen und fummelte auffallend lang an der Kapuze und dem Strick herum. Nachdem er kurz vor dem Opfer kniete erhob sich der Henker, strich den Umhang, oder besser den Sack, in den man Jytte gesteckt hatte glatt und gab den beiden Gehilfen ein Zeichen.
Die Rentiere setzten sich in Bewegung, der Strick spannte sich und kurz darauf schwebte Jytte in der Luft. Lele konnte den Blick nicht abwenden. Sie mochte Jytte nicht, aber mit ansehen zu müssen wie sie gehängt wurde war zu viel. Trotzdem musste einfach zusehen.
Jytte begann jetzt, wie der Mann vor ihr, zu zucken. In ihrem Schoss bildete sich ein nasser Fleck.
Dann war sie tot. Und Lele musste sich übergeben.
Sie brauchte eine Weile, um sich wieder zu erholen. Als sie den Blick wieder auf den Hof richtete sah sie den Bürgermeister bei Fynn und Jarkko stehen. Doch sie konnte nicht hören, was die drei besprachen. Aus ihrer Position konnte sie jedoch beobachten, wie der Bürgermeister Fynn einen kleinen Lederbeutel übergab. Hatte der Bürgermeister etwa Fynn bestochen?
Der Bürgermeister warf noch einen Blick auf die Leichen auf der Transportfläche des Schlittens. Dann verließ er mit seinem Gefolge den Hof. Fynn und Jarkko taten es ihm gleich, fuhren jedoch in die entgegengesetzte Richtung davon.
Lele war alleine. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie in dem Schuppen eingesperrt war.