Die letzten Tage hatten doch mehr an ihren Kräften gezehrt, als sie sich zunächst eingestehen wollte. Doch als sie auf dem kurzen Stück bis Livdröm fast wieder eingeschlafen wäre, hatte Lele zumindest in diesem Punkt Klarheit. Schlaftrunken stieg sie von Schlitten, schnappte sich ihr Gepäck und bemerkte, dass sie sich seit mehreren Tagen nicht mehr gewaschen hatte. Na toll, dachte sie, jetzt kommen wir heim und stinken auch noch.
Sie lies Franco und Toni den Vortritt. Ihnen schlug eine Welle aus Wärme, dem Duft nach Kaminfeuer und einem Braten im Ofen entgegen. Ein Gewirr aus vielen Stimmen verstärkte die Wirkung der Welle. Als die Neuankömmlinge bemerkt wurde, steigerte sich die Lautstärke und Leles Ohren schmerzten.
„Amici! Wir sinde zurugg!“
Lele lies die nun folgenden Umarmungen und Glückwünsche über sich ergehen. Später konnte sie nicht sagen, wer sie alles begrüßt hatte. Vendela gelang es schließlich, zu ihr durchzudringen.
„Schön, dass du wieder da bist“, flüsterte sie ihr in Ohr. „Du siehst furchtbar müde aus.“
„Bin ich auch“, sagte Lele.
„Dann komm, trink einen Becher Wein und dann geh dich frischmachen. Das hast du auch nötig.“
Vendela nahm Lele an die Hand und führte sie zu einem kleinen Tisch in der Ecke, auf dem die unterschiedlichsten Getränke standen. Sie reichte ihr einen Becher Wein.
„Hey“, begrüßte sie Topa und wollte ihr einen Kuss geben. Stattdessen fing er sich eine klatschende Backpfeife ein.
„Ihr habt mich belogen!“, zischte sie ihn an.
„Wir…ich…. also…“
„Sag jetzt besser nichts“, fiel Lele ihm ins Wort. Vendela gab Topa ein Zeichen, sich zurück zu ziehen.
„Hey“, sagte sie dann. „Wir wissen auch noch keine Details. Wichtig ist doch, dass Jytte gerettet wurde. Opa Kester und der kleinen Nilla geht es auch gut und niemand wurde verletzt.“
„Gerettet!?“ fauchte Lele. „Das haben sie dir erzählt? Sie haben sie gehängt. Jytte ist tot!“
„Da sitzt sie doch.“
Leles Blick folgte dem ausgestreckten Arm ihrer Freundin. Da saßen Jarkko, Franco und der andere Gefangene. Und Jytte. Zwar mit Tränen in den Augen, aber lebendig. Als ihre Blicke sich trafen, stand Jytte auf und kam auf sie zu. Die Umarmung war eher eine Umklammerung.
„Danke“, flüsterte Jytte. „Danke, dass du meine Familie gerettet hast. Wir stehen ewig in deiner Schuld. Danke, Danke, Danke.“
Lele sagte nichts. Erstens, weil ihr nicht bewusst war, dass sie jetzt etwas antworten sollte. Zweitens weil sie zu sehr damit beschäftigt war, herauszufinden, welchen Gemütszustand sie jetzt gerade für sich selbst wahr nahm. Wut?Freude?Ratlosigkeit?Dankbarkeit?
Vendela riss sie aus ihren Gedanken. „Komm, ich bringe dich ins Bad. Wir haben genug heißes Wasser aufgesetzt. Du nimmst jetzt ein Bad und danach klärt sich alles beim Essen auf.“ Widerstandslos folgte Lele ihr.
Lele zog sich aus und stieg in die Wanne. Das warme Wasser löste nicht nur die körperlichen Verspannungen. Jytte war also gerettet. Sie wusste zwar nicht warum, aber es war so. Sie würde ein paar Tage bleiben und dann mit Opa Kester ihres Weges ziehen. So weit, so gut. Blieb noch die Frage, warum alle anderen mehr wussten als sie. Und warum sie nicht in den Plan – den es ja offensichtlich gab – eingeweiht gewesen war. Konnte sie Fynn und Topa noch vertrauen?
„Was denkst du?“, fragte Tomte Tumetott. Der kleine Kobold saß auf dem Rand der Waschschüssel und lies die Beine baumeln. „Nach den Anspannungen in deinem Gesicht, ist es nichts Gutes.“
Die nun folgende Pause war Tomte nur zu gut gewohnt. Er tauchte immer unvermittelt auf und stelle seine Fragen. Sein Gegenüber brauchte immer eine Weile, um zu antworten. Aber sie antworteten ihm immer. Das war eine seiner Gaben als Kobold.
„Ich frage mich, warum sie mir nicht vertraut haben“, antwortete Lele schließlich.
„Und wie geht es dir damit?“
„Ich bin wütend.“ „Und verletzt,“ ergänzte sie nach einer kleinen Pause. „Und ich frage mich, ob ich ihnen das verzeihen kann.“
„Was verzeihen?“, fragte der Kobold.
„Na was sie mit mir gemacht haben.“
„Was haben sie denn mit dir gemacht?“
„Hab ich dir doch erzählt.“
„Ay“, bestätigte Tomte. „Aber ist das auch das, was sie wirklich gemacht haben?“
Lele schloss die Augen und dachte eine Weile nach. Als sie Tomte fragen wollte, wie er das gemeint hatte, war der Kobold verschwunden. Stattdessen klopfte es an der Tür.
„Lele?“, fragte Vendela. „Das Essen ist gleich fertig.“
Das Wort Essen erinnerte sie daran, dass sie in den letzten Tagen wenig gegessen hatte. Der Hunger überlagerte das Bedürfnis nach Antworten.
Als sie die Wohnstube betrat, nickten ihr alle Anwesenden freundlich zu. An der großen Tafel saßen Oma Lerke, neben ihr Opa Kester, daneben Jytte und die kleine Nilla. Auf der anderen Tischseite saßen Vendela und Boje mit den Zwillingen, daneben der Gefangene und Franco. An den Stirnseiten saßen Toni und Topa. Da nicht alle an der Tafel Platz hatten, saß Fynn mit seiner Tochter auf dem Arm auf dem Sofa. Die Kleine verschwand förmlich in seinen starken Armen. Fynn deutete auf den Platz neben sich. Lele setzte sich zu ihm.
„Hey“, sagte er. „Darf ich dir Maj-Lis vorstellen? Maj-Lis, das ist Lele.“
Lele betrachtete das Baby ohne Emotionen und ohne Worte. Aus der Küche kamen nun Paola und Cieli. Jede mit einer dampfenden Schüssel Suppe in den Händen. Wer keinen Platz an der Tafel gefunden hatte, setzte sich einfach irgendwo hin und nahm seinen Teller auf die Knie. Doch wer glaubte, dass mit dem Essen Ruhe einkehrte, sah sich getäuscht.
„Allora. Ih musse schon sage, die Plan war perfetto. Respekte Fynn. Ih trinke auf di. Salute.“
Alle hoben ihre Gläser und prosteten Fynn zu.
„Jetzt wollen wir aber die ganze Geschichte hören“, bat Oma Lerke. Fynn nickte Jarkko zu.
„Der Plan war, Jytte frei zu kaufen. Paola hat in ihrem Brief ihre Eltern gebeten, einen beachtlichen Teil ihres Vermögens an mich auszuzahlen.“
„Die Idee hatten wir von dir“, flüsterte Fynn Lele zu.
„Durch die Informationen, die wir in der Stadt sammeln konnten und die uns Opa Kester geben konnte, wussten wir, dass der Bürgermeister Geld brauchte und dass er keinen eigenen Henker hatte. Das gab uns die Möglichkeit, Lele zu befreien ohne das der Bürgermeister dadurch sein Gesicht verlor. Und die kleine Spende – die eigentlich gar nicht so klein war – wird dafür sorgen, dass er keinen Groll gegen uns hegt“, fuhr Jarkko fort.
Die Suppe und ein weiterer Becher Wein weckten die Lebensgeister wieder in Lele.
„Zupa di marrone. Perfetto. Grazie Cieli“, lobte Toni die Vorspeise.
„Aber wir hatten doch keinen Henker“, brachte Lele das Gespräch wieder zurück zum Thema.
„Ja, aber das wusste der Bürgermeister nicht. Und weil er Topa nicht zu Gesicht bekommen hatte, wurde der kurzerhand zum Henker.“
„Warum ausgerechnet Topa?“, wollte Lele wissen.
„Mich und Fynn kannte er. Blieben also noch Toni, Franco oder Topa. Toni war als Rückdeckung vorgesehen. Sollt etwas schief gehen oder der Bürgermeister uns eine Falle stellen, war Toni mit seiner Armbrust unsere Versicherung.“ Seinen Namen zu hören verpflichtete Toni, etwas zu sagen:
„Si, ih bin campione mit die balestra. Ein schutze-meista.“
„Francos Aufgabe war es, die Reserve des Bürgermeisters aus zu schalten.“
„Welche Reserve?“, fagte Lele. „Da war doch weiter niemand zu sehen.“
„Als du mich vor der Stadt abgesetzt hast“, antwortete Franco, „habe ich drei Schlitten beobachtet die die Stadt verlassen hatten. Zwei fuhren auf direktem Weg zum dem Bauernhof, der dritte bog nach links ab und umrundete einmal den Hof. Dabei verteilten sich die Wachen und umzingelten uns quasi.“
„Wie viele waren es?“ Wieder stelle Lele die Frage.
„Sechs“, antwortete Franco.
„Sei?“ fragte Toni. „Ih abe seggs mal eine scoppio gehört und eine Uhu hatte ‚uhu‘ gemaggd.“
„Und beim letzten mal hat der Uhu doppelt gerufen“, sagte Franco.
„Das war das verabredete Zeichen. Jetzt wussten Fynn und ich, dass wir im Vorteil waren und die Falle des Bürgermeisters nicht funktioniert hatte.“
Jetzt wurde Lele auch klar, warum der Bürgermeister sich so langsam bewegt hat und seine Männer so lange gebraucht hatten, den Hof zu durchsuchen. Sie wollten warten, bis ihre Kameraden in Position waren.
Paola und Cieli brachten das Essen. Und da es in Tonis Welt scheinbar Brauch war, das was jeder sehen konnte zusätzlich lautstark zu verkünden, sagte er:
„Sciacquetta. Ih liebe Ganse zu Natale. Keine Weihnaggde ohne meine geliebte Ganse. Grazie Cieli. Aba was is da los? Wo sinde die Pomodori und die Pasta? Was ist die Kraut da und die braune Kugele?“
„Wir essen Rotkohl und Semmelknödel dazu“, sagte Oma Lerke.
„Knodle?“, versuchte Toni sich an dem Wortungetüm.
„Gnocco“, sprang ihr Paola zur Seite.
„Gnocco? Das sinde keine Gnocco. In Italia Gnocco maggd ma aus… wie sagt ma? Bulbo aus die Ärde, si?“
„Kartoffeln, Bruderherz“, sagte Paola. „Aber diese Gnocco sind aus altem Brot.“
„Pane raffermo? Ih kenne nix. In Italia, die Huner esse pane raffermo.“
„Und hier bekommen es die Gäste“, sagte Oma Lerke und versuchte dabei streng zu wirken. „Und jetzt: Schnauze, Baby!“
„Si, Signora. Scusi, Signora.“
Da alle mit Essen beschäftigt waren, nutze Lele die Pause.
„Wieso hast du die Idee von mir?“, fragte sie Fynn leise.
„Du hast gesagt, wir sollten ihr Geld schicken und damit wäre alle erledigt. Also haben wir ihr Geld geschickt“, grinste der, ohne den Blick von seiner Tochter zu lassen.
„Und wieso ausgerechnet auf Opa Kesters altem Hof?“, fragte Lele, laut genug, dass alle es mitbekamen.
„Wir brauchten einen abgelegenen Ort. Der Hof war perfekt. Wir kannten die Lage und die Gegebenheiten vor Ort, der kleine Innenhof ist nicht einsehbar und wir hatten jede Menge Fluchtmöglichkeiten für den Notfall“, antwortete Jarkko.
„Okay“, mampfte Lele mit einem großen Stück Gans im Mund. „Und warum leben die beiden noch?“
„Wir haben in die Kapuzen Seile eingenäht“, sagte Cieli.
„Die habe ich dann um die Schultern der beiden gewickelt und den Strick daran und nicht am Hals befestigt. Durch die Kapuze war das nicht zu erkennen. Fynn und Jarkko haben sich absichtlich so hingestellt, dass die Wachen nichts sehen konnten.“
„Deswegen hat das mit der Kapuze so lange gedauert“, sagte Lele mehr zu sich selbst. Fragen wurden durch Antworten ersetzt und in Leles Kopf ebbte das Chaos langsam ab.
Bis zur Nachspeise erzählte Jarkko, was noch alles im Plan enthalten war, um es möglichst echt aussehen zu lassen. So war es unüblich, den Henker nur für eine Hinrichtung zu bezahlen. Also wurde unter dem Vorwand, den neuen Henker erst mal zu testen, ein weiterer Gefangener ausgewählt. Schwieriger war es, den beiden im Vorfeld eine Nachricht zukommen zu lassen, das die Hinrichtung nur eine Theaterstück war. Ein paar Münzen zusätzlich förderten das Verständnis und die Zustimmung des Bürgermeisters. Fynn und Jarkko gingen also auf dem Rückweg noch im Gefängnis vorbei und es wurde ihnen gestattet, mit den Gefangenen zu sprechen. Münzen gegen Worte, das war die Vereinbarung.
„Wirklich und in alle Details eingeweiht waren also nur der Bürgermeister, Fynn und ich“, beendete Jarkko seine Erzählung.
„Das war alles nur ein Theaterstück?“, fragte sie Fynn.
„Ja, aber ein gefährliches. Und deswegen wusste jeder nur das , was er für seine Rolle braucht. Topa wusste nichts von dem Einzelheiten, die wir mit dem Bürgermeister vereinbart hatten. Toni wusste nichts von Francos Aufgabe und Franco kannte die Details der Hinrichtung nicht.“
Lele schwieg. Noch mehr Fragen lösten sich in Luft auf.
„Und ich?“, fragte sie schließlich.
„Deine Aufgabe war es, Toni und Franco hier her zu bringen wenn alles gut ging. Wenn etwas schief gegangen wäre, wärst du die einzige gewesen, die uns dann hätte befreien können. Du warst unsere geheime Notfallversicherung, wenn du so willst.“
„Woher willst du wissen, dass ich euch hätte befreien können? Wie hätte ich das anstellen sollen“
„Ich, wir vertrauen dir. Dir wäre schon etwas eingefallen.“
Lele war gerührt. Die restlichen Fragen waren nicht mehr so wichtig und konnten warten.
———
Mit einem Bratapfel inklusive der verbalen Würdigung durch Toni endete das Weihnachtsessen der Freunde auf Livdröm. Und damit endet auch die Geschichte für dieses Jahr. Der Plan der Freunde ist perfekt aufgegangen. Sollte ein Plan nicht ganz so wie geplant aufgehen, wird das letzte Kapitel eben etwas länger 😉
Ich bedanke mich bei Allen, die dieses Jahr mit dabei waren und meine Geschichte verfolgt haben und die mit ihren Fragen und ihrem Feedback den Künstler reichlich belohnt haben 😉
So bleibt mir zum Schluss nur, dir/euch ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest zu wünschen, nochmal mit den Worten meiner Großmutter danke zu sagen:
Danke. Danke. Danke.
und dich/euch jetzt schon ganz herzlich für nächstes Jahr einzuladen.
Liebe Grüße und bis bald
Philipp
Danke das ich dabei sein dürfte.
Genial. Eine schöne Geschichte.
In diesem Sinne wünsche ich dir schöne Feiertage und bleib so wie du bist.
Bin auf 2021 gespannt
Hey, schön dass du dabei warst; bis nächstes Jahr dann….
Lieber Phil,
das war mal wieder eine ereignisreiche Geschichte die du uns dargeboten hast.
Allein schon die verschiedenen Handlungsstränge hielten den Spannungsbogen hoch.
Mit Denglisch komme ich im Alltag ganz gut klar 😉 doch
dank Franko und Toni bin nun auch dabei Ditalienisch zu lernen :-))))
Dir, lieber Phil wünsche ich einen guten Rutsch in ein für Dich rundum gutes und
gesundes neues Jahr und freue mich über Deine Einladung, wenn in 11 Monaten
die Geschichte weitergeht.
Herzliche Grüße, Hörbie
waaas??? Nur noch elf Monate bis es weiter geht?!?!? 😉