6 Wer bin ich?

Oma Lerke hatte tatsächlich auf Livdröm übernachtet. Seit der Hochzeit war sie oft auf dem Hof. Hauptsächlich, um Vendela bei den Zwillingen zu entlasten. Vordergründig, weil sie sich zuhause so alleine fühlte. Insgeheim hatten es die beiden ihr einfach angetan. Und sie konnte ihre Erfahrung als Kräuterfrau einsetzen. Seit Paola sich für ihre Bücher interessierte, hatte auch sie wieder mehr Freude daran, ihr altes Wissen anzuwenden. Wenn es Abends später wurde, schlief sie Oma Lerke meist auch auf Livdröm.

Nach der Arbeit kam Lele fast jeden Tag nach Livdröm. Entweder löste sie Oma Lerke die Zwillingen zu hüten, oder sie half ihrer Freundin Vendela bei der Hofarbeit. Jetzt saßen Lele und Oma Lerke mit je einem der Babys auf dem Arm vor der Wohnhütte. Oma Lerke beobachtete ihre Enkelin eine Weile.

„Liebes“, begann sie vorsichtig, „geht es dir gut?“

Lele wusste, dass ihre Oma diese Fragen nur stellte, wenn sie sich über etwas Sorgen machte. Und das etwas war Lele.

„Meine Gedanken sind immer noch bei dem Sinn des Lebens. Meines Lebens.“

„Hat dein Leben keinen Sinn?“

„Doch. Aber ich habe das Gefühl, das da mehr sein müsste“, fuhr Lele fort.

In der Auffahrt tauchte Topa mit seinem Schlitten auf.

„Wieso lässt du nicht heute mal die Sorgen hier, und machst mit Topa einen Ausflug?“

„Vermutlich hast du recht. Ein wenig mit dem Schlitten durch die Gegend flitzen bringt mich vielleicht auf andere Gedanken.“

Topa brauchte nicht lange überredet zu werden. Er bot Lele die Zügel an und die beiden rasten davon. Als Lele sich ausgetobt hatte, übergab sie den Schlitten wieder an Topa. An einem Flusslauf machten sie halt, setzten sich ans Ufer und ließen die Füße ins Wasser baumeln.

„Wieso hat Oma Lerke diesen Ausflug vorgeschlagen“, fragte Topa?

„Hmm“, brummte Lele. „Sie macht sich Sorgen um mich.“

„Wegen deiner Mama und ihrer Intrige gegen uns?“

„Wegen meiner Mutter mache ich mir keine Sorgen. Die ist weit genug weg und kann keine Intrige gegen uns spinnen.“

„Aber du machst dir um irgendetwas Sorgen?“

„Sorgen nicht“, antwortete Lele. „Es ist nur, dass ich das Gefühl habe, mein Leben ist nicht aufregend.“

Topa zog seine Beine an und legte die Arme um die Knie.

„Es ist nicht so, dass mir langweilig ist“, versuchte Lele ihm zu beruhigen „Ich habe dich, wir haben tolle Freunde, Livdröm, Oma Lerke, die Zwillinge. Das alles ist fantastisch und ich möchte nichts davon hergeben.“

„Es kommt mir so vor, als wäre das Leben der anderen wie dieser Fluss. Er fließt ein Stück gerade aus, und hinter der nächsten Kurve wartet ein Abenteuer. Nur mein Fluss fließt immer nur gerade aus.“

„Bei deinem letzten Abenteuer hast du dir das Bein gebrochen, meinen Schlitten zu Schrott gefahren und uns allen einen ordentlichen Schrecken eingejagt“, antwortete Topa.

„Ich meine doch nur, dass den anderen etwas aufregendes passiert. Boje und Vendela leben ihren Traum auf Livdröm und haben Zwillinge. Paola hat Oma Lerkes Bücher für sich entdeckt und geht voll darin auf. Du hast deine Bücher und Geschichten. Fynn scheint die kleinste Kleinigkeit in etwas praktische verwandeln zu können. Solche Sachen mein ich.“

Topa wusste nicht so recht, wie er mit dieser Antwort umgehen sollte. Worauf wollte Lele hinaus?

„Warum liebst du mich“, platzte sie in seine Gedanken.

„Was?“

Lele wiederholte die Frage.

„Keine Ahnung. Ich tue es einfach.“

„Weil ich so schön bin?“

„Was hat das denn damit zu tun?“

„Ständig sagen mir die Leute, wie schön ich doch bin. Du auch. Nur hast du es anders formuliert.“ „So schön, dass der Anblick weh tut“, flüsterte Topa.

„Ja. Ich will nicht auf mein Aussehen reduziert werden. Nicht von dir, von niemandem. Das ist nicht fair.“

„Ich wollte dich nicht….“

„Ich weiß“, fiel ihm Lele ins Wort. „Es war das zauberhafteste, was ich je gehört habe. Und ich liebe dich alleine für den Gedanken der dahinter steckt.“

„Aber es reduziert dich trotzdem auf dein Aussehen“, sagte Topa mit Tränen in den Augen.

Dann legten sie die Köpfe aneinander und weinten gemeinsam.

„Eine Frau nur wegen ihrer Schönheit zu lieben, ist genauso sinnvoll wie einen Vogel zu essen, nur weil er so schön singt“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Lele sah ihm in die Augen, und die Sonne schien wieder.

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