6/2017 Einer muss ja schuld sein

Am nächsten morgen wurden Fynn und Paola von Lele geweckt.

„Guten Morgen“, sagte Lele kurz und knapp. „Frühstück ist gleich fertig.“

„Guten Morgen“, antwortete Paola. Sie wollte Lele gerade bitten, Fynn einen neuen Verband anzulegen. Doch die hatte schon Salbe und Verbandsmaterial aus ihrer Tasche geholt und damit begonnen, den alten Verband zu lösen. Paola nutze die Zeit um sich frisch zumachen. Das Lele sich so zuvorkommend um Fynn kümmerte und ohne ein Wort von ihr den Verband wechselte, schob Paola auf Leles Erfahrung als Krankenschwester. Doch das es auch um Lele schlecht bestellt war, ahnte sie nicht.

Normal planten sie beim Frühstück sie die heutige Etappe der Heimreise. Doch heute sprach keiner ein Wort.

Fynn redete nicht, weil er hin und her gerissen war, zwischen Erleichterung darüber, Paola einen Teil seiner Vergangenheit erzählt zu haben und der Angst vor dem, was er ihr noch alles würde berichten müssen, um ihr die ganze Wahrheit zu erzählen. Paola sagte nichts, weil sie sich nicht vor Lele und Topa verplappern wollte. Fynn hatte sich ihr gegenüber endlich geöffnet und sie wollte sein Vertrauen nicht durch eine unbedachte Äußerung missbrauchen. Lele und Topa hingegen schwiegen, weil sie durch die Schreie von Paola geweckt worden waren und das anschließende Gespräch mit angehört hatten. Vielleicht war es den beiden unangenehm, darauf angesprochen zu werden, also schwiegen auch sie.

Nach dem Frühstück packten sie gemeinsam ihre Sachen auf die Schlitten und fuhren los. Lele stieg zu Paola auf den Schlitten, Fynn und Topa fuhren voraus. Paola kannte Lele mittlerweile gut genug um zu spüren, dass sie etwas beschäftigte. Deswegen lies sie den Schlitten etwas zurückfallen.

„Du bist sehr unruhig heute“, sagte sie zu Lele als der Abstand so groß war, dass die beiden Männer das Gespräch nicht würden mithören können.

„Wir sind durch deine Schreie aufgewacht und haben euer Gespräch mitbekommen.“

„Das beschäftigt dich?“, fragte Paola erstaunt.

„Glaubst du, er hat jemanden……. ?“

„Getötet?“

Lele nickte. Der Gedanke, das Fynn in Wahrheit ganz anders war, als sie ihn kennengelernt hatten, hatte Lele erschreckt.

„Als wir dich befreit hatten, war ich viel zu aufgeregt, um darüber nachzudenken, woher er all diese Fähigkeiten hatte. Ich habe ihn bewundert, wie er das alles geplant und durchgeführt hat. Jetzt weiß ich, warum er das kann.“

„Und wie denkst du jetzt über ihn?“

„Er hat dich gerettet, er hat aus Liebe zu dir alles getan, was er tun musste. Und er hat Topa und mich dabei auch noch beschützt, in dem er uns so wenig wie möglich in Gefahr gebracht hat. Dafür bin ich ihm ewig dankbar.“

„Dann ist ja alles in bester Ordnung“, erwiderte Paola.

„In bester Ordnung? Nichts ist in bester Ordnung. Fynn ist schwer verletzt. Er wollte dieses Leben hinter sich lassen, doch jetzt hat ihn das alles wieder eingeholt.“

„Die Vergangenheit holt jeden irgendwann ein. Und irgendwann, muss jeder sich seinen Taten stellen, seine Dämonen bekämpfen oder lernen, mit ihnen zu leben.“

„Und wenn er dich wieder angreift und dir ernsthaft weh tut? Das würde ich mir nie verzeihen.“

„Aber das ist doch nicht deine Schuld.“

„Doch! Das alles hier ist meine Schuld. Schließlich war es meine Mutter, der wir das zu verdanken haben. Wäre ich in ihren Augen eine bessere Tochter gewesen, wäre das alles vielleicht nicht passiert.“

„Keiner gibt dir die Schuld dafür. Und du solltest das auch nicht tun.“

„Und wer ist dann schuld an dem ganzen Schlamassel?“

„Du auf jeden Fall nicht. Du bist nicht verantwortlich, für das was passiert ist.“

„Aber es war meine Mutter. Alle werden mir die Schuld daran geben, wenn wir zurück sind. Mutter ist nicht mehr da, also werden sie mir die Schuld geben. Keiner wird sich trauen, mir das zu sagen. Aber sie werden es tun. Und ich muss jeden Tag damit leben.“

Insgeheim war es Lele ganz recht, das sie nur sehr langsam voran kamen und immer wieder tagelange Pausen machen musste, bis Fynn wieder zu Kräften gekommen war.

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