Lele fühlte seinen Puls. Fynn lebte. Dann tastete sie vorsichtig seinen Körper ab. Sie konnte nichts finden, außer einer Wunde an seiner rechten Seite.
„Er lebt, aber hat schon viel Blut verloren“, sagte sie zu Paola. „Wir müssen ihn vorsichtig auf den Schlitten legen.“
Zu zweit schafften sie es, Fynn auf den Schlitten zu heben. Der stöhnte, als sie ihn etwas unsanft ablegten.
„Das Zeichen“, flüsterte er. Paola beugte sich über ihn. „Was?“
„Das Zeichen“, wiederholte Fynn.
„Das Zeichen? Welches Zeichen?“, fragte Paola, die es nicht mehr lange schaffen würde, gegen die Panik zu kämpfen.
„Feuertopf…… brennender Pfeil….“, wisperte Fynn fast unhörbar. Er streckte den linken Arm aus und deutete auf den Korb mit dem Tongefäß. Dann verlor er das Bewusstsein.
„Was hat er gesagt?“, wollte Lele wissen.
Paola wiederholte die Worte Zeichen, Feuertopf und brennender Pfeil.
„Das muss das Zeichen für Topa und Jarkko sein, das sie sich in Sicherheit bringen sollen.“
Sie öffnete das Tongefäß. Darin befand sich glühende Holzkohle.
„Und jetzt?“, fragte sie.
„Such nach Pfeil und Bogen“, sagte Paola. Unter dem Fahrersitz fanden sie einen Bogen und zwei Pfeile, deren Spitze mit einem Stück Stoff umwickelt waren.
„Lass mich das machen“, sagte Paola. „Kannst du seine Blutung stoppen?“
„Zumindest vorübergehend. Ich müsste die Wunde untersuchen, damit sie nicht eitert. Aber es ist zu dunkel, ich kann nichts sehen.“
„Dafür haben wir jetzt eh keine Zeit. Stopp die Blutung. Um den Rest kümmern wir und später.“
Das einzige was Lele einfiel, war ihr Halstuch. Lele kämpfte mit sich. Wenn sie die Wunde nicht reinigte oder durch ihr Halstuch Schmutz in die Wunde kam, könnte sie anfangen zu eitern und das würde das Ende von Fynn sein.
Während dessen hatte Paola es geschafft, einen der Pfeile an der Glut zu entzünden. Sie spannte den Bogen und zielte hoch in den Himmel. Dann ließ sie den Pfeil los und sah dem Feuerschweif hinterher.
„Erledigt“, sagte sie zu Lele. „Lass uns hier verschwinden.“
„Drück das auf die Wunde“, erwiderte Lele. „Ich bringe uns hier weg.“
Im Morgengrauen erreichten sie den Gasthof. Alle waren erleichtert, sich wieder zu sehen.
Jarkko und Toni machten sich sofort daran, die Rentiere zu wechseln.
„Spart euch die Mühe. Wir müssen uns erst um Fynn kümmern. Topa, besorg` uns ein Zimmer in dem Gasthof. Wir brauchen heißes Wasser und meinen Rucksack. Jarkko und Toni, ihr tragt ihn vorsichtig hinein.“ Lele reagierte wie bei einem Notfall im Krankenhaus.
„Was kann ich machen?“, wollte Paola wissen.
„Versuch die Zutaten für eine Wundsalbe zubekommen. Irgendwas aus Oma Lerkes Büchern. Wir werden mehr Salbe brauchen, als ich dabei habe.“
Sie brachten Fynn in ein Zimmer und zogen ihm die Kleider aus. Während Lele die Wunde untersuchte und reinigte, versteckten Jarkko und Toni die Schlitten samt Rentiere.
Lele verband die Wunde, so gut sie konnte. Sie war nicht groß, dafür aber tief. Sie hoffte, das keine wichtigen Organe betroffen waren. Sie deckte Fynn zu und ging zu den anderen in die Gaststube.
„Die Wunde ist tief, aber wahrscheinlich nicht gefährlich.“
„Wahrscheinlich?“, fragte Paola.
„Es hat schnell aufgehört zu bluten. Deswegen gehe ich davon aus, dass es kein Organe und großen Blutgefäße betroffen sind.“
„Können wir ihn transportieren?“, fragte Jarkko.
„Heute nicht, wir sollten bis morgen warten. Wenn sich sein Zustand bis dahin nicht verschlechtert hat, können wir aufbrechen.“
„Dann warten wir bis morgen“, sagte Jarkko. „Esst, dann legt ihr drei euch hin und schlaft euch aus. Toni und ich halten Wache, für den Fall das wir verfolgt worden sind.“
Nach und nach viel die Anspannung von allen ab. Das Essen trug seinen Teil dazu bei, dass sie schlagartig spürten, wie erschöpft sie waren. Sie mieteten noch ein Zimmer und schliefen sofort ein.
Am nächsten morgen kontrollierte Lele Fynns Wunde. Sie hatte sich nicht entzündet. Fynn schlief immer noch die meiste Zeit. Sie verabschiedeten sich von Toni und Jarkko und traten die Heimreise an.
Lele und Topa lenkten die beiden Schlitten, Paola wich nicht von Fynns Seite. Im Kopf ging sie immer wieder alles durch, was sie auch Oma Lerkes Büchern gelernt hatte. Jedes mal wenn sie Pause machten oder durch ein Dorf kamen, suchte sie nach Kräutern, kaufte sie auf dem Markt oder bei Kräuterfrauen. Leles Wissen aus dem Krankenhaus half Paola, die richtigen Salben und Teemischungen zu finden. Auch wenn sie nicht alles Zutaten für eine optimale Behandlung bekommen konnten, erholte sich Fynn schneller als gedacht. Die Strapazen der Reise schwächten ihn jedoch wieder. Er war zwar wieder bei Bewusstsein, blieb aber schwach und schlief die meiste Zeit. Zumindest tat er so. In Wirklichkeit schloss er die Augen, um Paola nicht sehen zu müssen und um nicht mit ihr reden zu müssen. Schon bei ihrem Aufbruch war ihm die kleine Rundung an Paolas Bauch aufgefallen. Erst wollte er nicht glauben, was er da sah. Doch bei genauerem Hinsehen wuchs in ihm die schreckliche Gewissheit, dass er zu spät gekommen war. Paola war schwanger, das war nicht zu übersehen.
Sie kamen nur langsam voran und bald viel es Fynn zunehmend schwer, sich schlafend und schwach zu stellen. Aber er vermied weiter jeden Kontakt mit Paola. Wenn sie sich Nachts an ihn kuschelte, blieb er regungslos liegen. Auch ihre Küsse konnte er nicht erwidern.
Paola spürte seine Zurückweisung. Jedoch wollte sie ihn nicht drängen, nach allem was er für sie getan hatte. Auch Lele und Topa konnten sich keinen Reim auf Fynns Verhalten machen.
Die Kälte zwischen Paola und Fynn belastete schnell die ganze Gruppe. Fynn wurde zunehmend wütend, weil niemand sah oder sehen wollte, was seine Welt zum Einsturz gebracht hatte. Ihre Freude über Paolas Rettung empfand er als Verrat. Verrat an der Liebe zu Paola und an der Freundschaft zu Topa und Lele. Paola weinte viel, wenn Fynn sie nicht sehen konnte. Immer war es Lele, die sie tröstete. Als Lele das Leiden ihrer Freundin und die abweisende und schroffe Art von Fynn zu viel wurde, nutze sie eine der Pausen, um mit Fynn zu reden. Paola wollte Kräuter sammeln und Lele gab Topa ein Zeichen, sie zu begleiten.
Sie setze sich neben Fynn uns blickte ihm direkt in die Augen. Dabei versuchte sie, möglichst entschlossen zu wirken.
„Sag mir, was los ist. An deiner Verletzung kann es nicht liegen, die heilt bestens. Paola leidet wegen dir, und auch Topa und ich belastet dein Verhalten.“
Fynn schwieg.
„Wenn du schon nicht mit Paola reden willst, dann wenigstens mit mir. Schließlich habe ich die das Leben gerettet.“
Auch alle weiteren Versuche von Lele, ihn zum reden zu bringen, blieben erfolglos. Schließlich packte sie die Wut.
„Hast du sie deswegen befreit? Hast du uns alle in Gefahr gebracht, um dich jetzt wie ein gefühlloses Arschloch aufzuführen? Das ist nicht fair!“, schrie sie ihn an. „Nicht fair!“
Doch Fynn schwieg weiter. Er konnte nicht aussprechen, was er nicht wahr haben wollte und was alle anderen nicht sahen.
„Du verdammter Scheißkerl“, schrie Lele. „Du, du… du Feigling!“ Sie trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust.
„Feigling!“
Dann schlug sie ihm ins Gesicht und begann zu weinen. Auch Fynn begann zu weinen.
„Ich bin zu spät gekommen. Wir sind zu spät gekommen“, schluchzte er.
„Was redest du da? Wir haben sie befreit, es ist nichts passiert, was sich nicht wieder reparieren lässt.“
„Nichts passiert? Wer von uns beiden ist jetzt ein gefühlloses Arschloch? Jeder weiß doch, was passiert ist!“ Jetzt war es Fynn, der Lele anschrie.
„Och bitte, du kannst doch die Hochzeit nicht wirklich ernst nehmen? Paola wurde dazu gezwungen.“
„Hochzeit? Sie ist auch noch verheiratet?“
„Ja. Na und, was ändert das schon. Sie liebt dich, nur dich. Und du machst so einen Aufstand wegen einer erzwungenen Hochzeit. Was macht das schon. Wenn du mit ihr reden würdest, wüsstest du das.“
„Und wenn du mal die Augen aufmachen würdest, wüsstest du, dass sie schwanger ist. Und jetzt rate mal von wem! Sag mir also nicht, es ist nichts passiert! Wann wolltet ihr mir eigentlich von dieser Hochzeit erzählen, hm?“
„Schwanger? Paola soll schwanger sein?“ Lele wurde jetzt ganz still. „Davon hat sie mir nichts erzählt. Woher weißt du, dass….?“
„Nun, Frau Krankenschwester, dann sieh dir mal genau ihren Bauch an.“
„Was ist mit meinem Bauch?“, fragte Paola und trat hinter dem Schlitten hervor.
Lele starrte auf ihren Bauch. Jetzt sah auch sie die kleine Wölbung.
„Du bist schwanger?“, stammelte sie.
„Ja. Und nein.“
„Ja was denn nun?“
„Ich bin nicht schwanger. Ich nenne es Sauerkrautschwanger. Bestimmte Lebensmittel wie Sauerkraut, Lauch, Knoblauch, Erbsen, Bohnen und noch ein paar mehr verursachen einen Blähbauch. Die einzige Chance, nicht schwanger zu werden war, schon schwanger zu sein. Das wäre zwar nicht mehr lange gut gegangen, dann wäre der Schwindel aufgefallen. Aber du bist rechtzeitig gekommen um mich zu retten. Sobald ich die richtigen Kräuter habe, koche ich mir Tee, geh viel Spazieren und werde ein paar Tage heftig Furzen.“
Fynn schwieg, weil er sich schämte, und Lele schwieg, weil sie von Paola beeindruckt war. Paola kletterte zu Fynn auf den Schlitten.
„Hast du wirklich gedacht, ich bin schwanger?“
Fynn nickte nur. Paola legt sich neben ihn.
„Der einzige der, von dem ich je Kinder bekommen werde, bist du“, flüsterte sie.
Fynn legte seinen Arm um Paola und zog sie zu sich heran. Dann küsste er sie.
Lele ließ die beiden alleine und suchte Topa.
„Das hast du gut gemacht“, begrüßte er sie.
„Du hast alles gehört?“
„Nur das wichtigste. War ja auch nicht zu überhören“, grinste er.
Als sie an diesem Abend unter ihren Rentierfellen lagen, fragte Topa:
„Wie fühlst du dich?“
„Was meinst du?“
„Ich muss gerade an unser Gespräch am Fluss denken“, sagte Topa. „Hattest du das mit Abenteuer gemeint?“
„Das hier hat mir wirklich Spaß gemacht. Nicht weil es gefährlich war, sondern weil wir das gemeinsam geschafft haben. Jeder hat seinen Teil dazu beigetragen, je nach seinen Fähigkeiten. Wir haben einander vertraut, ihr habt mir einfach vertraut, mir und meinen Fähigkeiten. Ohne zu fragen ob ich das kann oder ob es gefährlich ist oder sonst was. Das hat mir sehr gut getan.“
„Haben wir das sonst nicht getan?“, fragte Topa.
„Vielleicht habe ich es einfach nicht gemerkt. Und ich habe nie die Möglichkeit gehabt, neue Seiten an mir zu entdecken, mal etwas ganz besonderes oder außergewöhnliches zu tun.“
„Für mich war das, was du heute getan hast, etwas außergewöhnliches“, sagte Topa.
„Aber das war doch nur, weil ich so wütend auf Fynn war.“
„Warum warst du wütend?“
„Weil er unfair zu Paola war.“
„Weil du willst, dass es den Menschen um dich herum gut geht. Deswegen bist du so hilfsbereit, deswegen kämpfst du wie eine Löwin gegen Ungerechtigkeit, deswegen bist du eine gute Krankenschwester, deswegen bist du eine ganz besondere Frau.“
„Wirklich?“
„Wirklich.“
Auf dem anderen Schlitten kuschelten Fynn und Paola. Fynn streichelte ihr Gesicht.
„Du hast viele Geheimnisse und Talente, Prinzessin.“
„Du auch, Soldat.“
——
So endet die Geschichte für dieses Jahr. Ich danke euch allen von ganzem Herzen, dass ihr wieder mit dabei wart und dass auch dieses Jahr wieder neue Leser dazugekommen sind. Ich wünsche euch allen, euren Familien und Freunden ein schönes Weihnachtsfest, ruhige Feiertage und freue mich, wenn ihr nächste Jahr wieder mit dabei seit.
Liebe Grüße
Philipp