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24/2020 (K)ein Wunder zu Weihnachten

Die letzten Tage hatten doch mehr an ihren Kräften gezehrt, als sie sich zunächst eingestehen wollte. Doch als sie auf dem kurzen Stück bis Livdröm fast wieder eingeschlafen wäre, hatte Lele zumindest in diesem Punkt Klarheit. Schlaftrunken stieg sie von Schlitten, schnappte sich ihr Gepäck und bemerkte, dass sie sich seit mehreren Tagen nicht mehr gewaschen hatte. Na toll, dachte sie, jetzt kommen wir heim und stinken auch noch.

Sie lies Franco und Toni den Vortritt. Ihnen schlug eine Welle aus Wärme, dem Duft nach Kaminfeuer und einem Braten im Ofen entgegen. Ein Gewirr aus vielen Stimmen verstärkte die Wirkung der Welle. Als die Neuankömmlinge bemerkt wurde, steigerte sich die Lautstärke und Leles Ohren schmerzten.

„Amici! Wir sinde zurugg!“

Lele lies die nun folgenden Umarmungen und Glückwünsche über sich ergehen. Später konnte sie nicht sagen, wer sie alles begrüßt hatte. Vendela gelang es schließlich, zu ihr durchzudringen.

„Schön, dass du wieder da bist“, flüsterte sie ihr in Ohr. „Du siehst furchtbar müde aus.“

„Bin ich auch“, sagte Lele.

„Dann komm, trink einen Becher Wein und dann geh dich frischmachen. Das hast du auch nötig.“

Vendela nahm Lele an die Hand und führte sie zu einem kleinen Tisch in der Ecke, auf dem die unterschiedlichsten Getränke standen. Sie reichte ihr einen Becher Wein.

„Hey“, begrüßte sie Topa und wollte ihr einen Kuss geben. Stattdessen fing er sich eine klatschende Backpfeife ein.

„Ihr habt mich belogen!“, zischte sie ihn an.

„Wir…ich…. also…“

„Sag jetzt besser nichts“, fiel Lele ihm ins Wort. Vendela gab Topa ein Zeichen, sich zurück zu ziehen.

„Hey“, sagte sie dann. „Wir wissen auch noch keine Details. Wichtig ist doch, dass Jytte gerettet wurde. Opa Kester und der kleinen Nilla geht es auch gut und niemand wurde verletzt.“

„Gerettet!?“ fauchte Lele. „Das haben sie dir erzählt? Sie haben sie gehängt. Jytte ist tot!“

„Da sitzt sie doch.“

Leles Blick folgte dem ausgestreckten Arm ihrer Freundin. Da saßen Jarkko, Franco und der andere Gefangene. Und Jytte. Zwar mit Tränen in den Augen, aber lebendig. Als ihre Blicke sich trafen, stand Jytte auf und kam auf sie zu. Die Umarmung war eher eine Umklammerung.

„Danke“, flüsterte Jytte. „Danke, dass du meine Familie gerettet hast. Wir stehen ewig in deiner Schuld. Danke, Danke, Danke.“

Lele sagte nichts. Erstens, weil ihr nicht bewusst war, dass sie jetzt etwas antworten sollte. Zweitens weil sie zu sehr damit beschäftigt war, herauszufinden, welchen Gemütszustand sie jetzt gerade für sich selbst wahr nahm. Wut?Freude?Ratlosigkeit?Dankbarkeit?

Vendela riss sie aus ihren Gedanken. „Komm, ich bringe dich ins Bad. Wir haben genug heißes Wasser aufgesetzt. Du nimmst jetzt ein Bad und danach klärt sich alles beim Essen auf.“ Widerstandslos folgte Lele ihr.

Lele zog sich aus und stieg in die Wanne. Das warme Wasser löste nicht nur die körperlichen Verspannungen. Jytte war also gerettet. Sie wusste zwar nicht warum, aber es war so. Sie würde ein paar Tage bleiben und dann mit Opa Kester ihres Weges ziehen. So weit, so gut. Blieb noch die Frage, warum alle anderen mehr wussten als sie. Und warum sie nicht in den Plan – den es ja offensichtlich gab – eingeweiht gewesen war. Konnte sie Fynn und Topa noch vertrauen?

„Was denkst du?“, fragte Tomte Tumetott. Der kleine Kobold saß auf dem Rand der Waschschüssel und lies die Beine baumeln. „Nach den Anspannungen in deinem Gesicht, ist es nichts Gutes.“

Die nun folgende Pause war Tomte nur zu gut gewohnt. Er tauchte immer unvermittelt auf und stelle seine Fragen. Sein Gegenüber brauchte immer eine Weile, um zu antworten. Aber sie antworteten ihm immer. Das war eine seiner Gaben als Kobold.

„Ich frage mich, warum sie mir nicht vertraut haben“, antwortete Lele schließlich.

„Und wie geht es dir damit?“

„Ich bin wütend.“ „Und verletzt,“ ergänzte sie nach einer kleinen Pause. „Und ich frage mich, ob ich ihnen das verzeihen kann.“

„Was verzeihen?“, fragte der Kobold.

„Na was sie mit mir gemacht haben.“

„Was haben sie denn mit dir gemacht?“

„Hab ich dir doch erzählt.“

„Ay“, bestätigte Tomte. „Aber ist das auch das, was sie wirklich gemacht haben?“

Lele schloss die Augen und dachte eine Weile nach. Als sie Tomte fragen wollte, wie er das gemeint hatte, war der Kobold verschwunden. Stattdessen klopfte es an der Tür.

„Lele?“, fragte Vendela. „Das Essen ist gleich fertig.“

Das Wort Essen erinnerte sie daran, dass sie in den letzten Tagen wenig gegessen hatte. Der Hunger überlagerte das Bedürfnis nach Antworten.

Als sie die Wohnstube betrat, nickten ihr alle Anwesenden freundlich zu. An der großen Tafel saßen Oma Lerke, neben ihr Opa Kester, daneben Jytte und die kleine Nilla. Auf der anderen Tischseite saßen Vendela und Boje mit den Zwillingen, daneben der Gefangene und Franco. An den Stirnseiten saßen Toni und Topa. Da nicht alle an der Tafel Platz hatten, saß Fynn mit seiner Tochter auf dem Arm auf dem Sofa. Die Kleine verschwand förmlich in seinen starken Armen. Fynn deutete auf den Platz neben sich. Lele setzte sich zu ihm.

„Hey“, sagte er. „Darf ich dir Maj-Lis vorstellen? Maj-Lis, das ist Lele.“

Lele betrachtete das Baby ohne Emotionen und ohne Worte. Aus der Küche kamen nun Paola und Cieli. Jede mit einer dampfenden Schüssel Suppe in den Händen. Wer keinen Platz an der Tafel gefunden hatte, setzte sich einfach irgendwo hin und nahm seinen Teller auf die Knie. Doch wer glaubte, dass mit dem Essen Ruhe einkehrte, sah sich getäuscht.

„Allora. Ih musse schon sage, die Plan war perfetto. Respekte Fynn. Ih trinke auf di. Salute.“

Alle hoben ihre Gläser und prosteten Fynn zu.

„Jetzt wollen wir aber die ganze Geschichte hören“, bat Oma Lerke. Fynn nickte Jarkko zu.

„Der Plan war, Jytte frei zu kaufen. Paola hat in ihrem Brief ihre Eltern gebeten, einen beachtlichen Teil ihres Vermögens an mich auszuzahlen.“

„Die Idee hatten wir von dir“, flüsterte Fynn Lele zu.

„Durch die Informationen, die wir in der Stadt sammeln konnten und die uns Opa Kester geben konnte, wussten wir, dass der Bürgermeister Geld brauchte und dass er keinen eigenen Henker hatte. Das gab uns die Möglichkeit, Lele zu befreien ohne das der Bürgermeister dadurch sein Gesicht verlor. Und die kleine Spende – die eigentlich gar nicht so klein war – wird dafür sorgen, dass er keinen Groll gegen uns hegt“, fuhr Jarkko fort.

Die Suppe und ein weiterer Becher Wein weckten die Lebensgeister wieder in Lele.

„Zupa di marrone. Perfetto. Grazie Cieli“, lobte Toni die Vorspeise.

„Aber wir hatten doch keinen Henker“, brachte Lele das Gespräch wieder zurück zum Thema.

„Ja, aber das wusste der Bürgermeister nicht. Und weil er Topa nicht zu Gesicht bekommen hatte, wurde der kurzerhand zum Henker.“

„Warum ausgerechnet Topa?“, wollte Lele wissen.

„Mich und Fynn kannte er. Blieben also noch Toni, Franco oder Topa. Toni war als Rückdeckung vorgesehen. Sollt etwas schief gehen oder der Bürgermeister uns eine Falle stellen, war Toni mit seiner Armbrust unsere Versicherung.“ Seinen Namen zu hören verpflichtete Toni, etwas zu sagen:

„Si, ih bin campione mit die balestra. Ein schutze-meista.“

„Francos Aufgabe war es, die Reserve des Bürgermeisters aus zu schalten.“

„Welche Reserve?“, fagte Lele. „Da war doch weiter niemand zu sehen.“

„Als du mich vor der Stadt abgesetzt hast“, antwortete Franco, „habe ich drei Schlitten beobachtet die die Stadt verlassen hatten. Zwei fuhren auf direktem Weg zum dem Bauernhof, der dritte bog nach links ab und umrundete einmal den Hof. Dabei verteilten sich die Wachen und umzingelten uns quasi.“

„Wie viele waren es?“ Wieder stelle Lele die Frage.

„Sechs“, antwortete Franco.

„Sei?“ fragte Toni. „Ih abe seggs mal eine scoppio gehört und eine Uhu hatte ‚uhu‘ gemaggd.“

„Und beim letzten mal hat der Uhu doppelt gerufen“, sagte Franco.

„Das war das verabredete Zeichen. Jetzt wussten Fynn und ich, dass wir im Vorteil waren und die Falle des Bürgermeisters nicht funktioniert hatte.“

Jetzt wurde Lele auch klar, warum der Bürgermeister sich so langsam bewegt hat und seine Männer so lange gebraucht hatten, den Hof zu durchsuchen. Sie wollten warten, bis ihre Kameraden in Position waren.

Paola und Cieli brachten das Essen. Und da es in Tonis Welt scheinbar Brauch war, das was jeder sehen konnte zusätzlich lautstark zu verkünden, sagte er:
„Sciacquetta. Ih liebe Ganse zu Natale. Keine Weihnaggde ohne meine geliebte Ganse. Grazie Cieli. Aba was is da los? Wo sinde die Pomodori und die Pasta? Was ist die Kraut da und die braune Kugele?“

„Wir essen Rotkohl und Semmelknödel dazu“, sagte Oma Lerke.

„Knodle?“, versuchte Toni sich an dem Wortungetüm.

„Gnocco“, sprang ihr Paola zur Seite.

„Gnocco? Das sinde keine Gnocco. In Italia Gnocco maggd ma aus… wie sagt ma? Bulbo aus die Ärde, si?“

„Kartoffeln, Bruderherz“, sagte Paola. „Aber diese Gnocco sind aus altem Brot.“

„Pane raffermo? Ih kenne nix. In Italia, die Huner esse pane raffermo.“

„Und hier bekommen es die Gäste“, sagte Oma Lerke und versuchte dabei streng zu wirken. „Und jetzt: Schnauze, Baby!“

„Si, Signora. Scusi, Signora.“

Da alle mit Essen beschäftigt waren, nutze Lele die Pause.

„Wieso hast du die Idee von mir?“, fragte sie Fynn leise.

„Du hast gesagt, wir sollten ihr Geld schicken und damit wäre alle erledigt. Also haben wir ihr Geld geschickt“, grinste der, ohne den Blick von seiner Tochter zu lassen.

„Und wieso ausgerechnet auf Opa Kesters altem Hof?“, fragte Lele, laut genug, dass alle es mitbekamen.

„Wir brauchten einen abgelegenen Ort. Der Hof war perfekt. Wir kannten die Lage und die Gegebenheiten vor Ort, der kleine Innenhof ist nicht einsehbar und wir hatten jede Menge Fluchtmöglichkeiten für den Notfall“, antwortete Jarkko.

„Okay“, mampfte Lele mit einem großen Stück Gans im Mund. „Und warum leben die beiden noch?“

„Wir haben in die Kapuzen Seile eingenäht“, sagte Cieli.

„Die habe ich dann um die Schultern der beiden gewickelt und den Strick daran und nicht am Hals befestigt. Durch die Kapuze war das nicht zu erkennen. Fynn und Jarkko haben sich absichtlich so hingestellt, dass die Wachen nichts sehen konnten.“

„Deswegen hat das mit der Kapuze so lange gedauert“, sagte Lele mehr zu sich selbst. Fragen wurden durch Antworten ersetzt und in Leles Kopf ebbte das Chaos langsam ab.

Bis zur Nachspeise erzählte Jarkko, was noch alles im Plan enthalten war, um es möglichst echt aussehen zu lassen. So war es unüblich, den Henker nur für eine Hinrichtung zu bezahlen. Also wurde unter dem Vorwand, den neuen Henker erst mal zu testen, ein weiterer Gefangener ausgewählt. Schwieriger war es, den beiden im Vorfeld eine Nachricht zukommen zu lassen, das die Hinrichtung nur eine Theaterstück war. Ein paar Münzen zusätzlich förderten das Verständnis und die Zustimmung des Bürgermeisters. Fynn und Jarkko gingen also auf dem Rückweg noch im Gefängnis vorbei und es wurde ihnen gestattet, mit den Gefangenen zu sprechen. Münzen gegen Worte, das war die Vereinbarung.

„Wirklich und in alle Details eingeweiht waren also nur der Bürgermeister, Fynn und ich“, beendete Jarkko seine Erzählung.

„Das war alles nur ein Theaterstück?“, fragte sie Fynn.

„Ja, aber ein gefährliches. Und deswegen wusste jeder nur das , was er für seine Rolle braucht. Topa wusste nichts von dem Einzelheiten, die wir mit dem Bürgermeister vereinbart hatten. Toni wusste nichts von Francos Aufgabe und Franco kannte die Details der Hinrichtung nicht.“

Lele schwieg. Noch mehr Fragen lösten sich in Luft auf.

„Und ich?“, fragte sie schließlich.

„Deine Aufgabe war es, Toni und Franco hier her zu bringen wenn alles gut ging. Wenn etwas schief gegangen wäre, wärst du die einzige gewesen, die uns dann hätte befreien können. Du warst unsere geheime Notfallversicherung, wenn du so willst.“

„Woher willst du wissen, dass ich euch hätte befreien können? Wie hätte ich das anstellen sollen“

„Ich, wir vertrauen dir. Dir wäre schon etwas eingefallen.“

Lele war gerührt. Die restlichen Fragen waren nicht mehr so wichtig und konnten warten.

———

Mit einem Bratapfel inklusive der verbalen Würdigung durch Toni endete das Weihnachtsessen der Freunde auf Livdröm. Und damit endet auch die Geschichte für dieses Jahr. Der Plan der Freunde ist perfekt aufgegangen. Sollte ein Plan nicht ganz so wie geplant aufgehen, wird das letzte Kapitel eben etwas länger 😉

Ich bedanke mich bei Allen, die dieses Jahr mit dabei waren und meine Geschichte verfolgt haben und die mit ihren Fragen und ihrem Feedback den Künstler reichlich belohnt haben 😉

So bleibt mir zum Schluss nur, dir/euch ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest zu wünschen, nochmal mit den Worten meiner Großmutter danke zu sagen:

Danke. Danke. Danke.

und dich/euch jetzt schon ganz herzlich für nächstes Jahr einzuladen.

Liebe Grüße und bis bald

Philipp

23/2020 Was redest du für einen Mist

So ein Mist, dachte Lele. Jetzt bin ich hier eingesperrt. Fynn und Jarkko fahren mit zwei Leichen durch die Gegend und von Topa, Franco und Toni keine Spur.

„Ah… fantastico! Mirabeli!“, wurde sie von Toni aus ihren Gedanken gerissen. „I muss zugebe, dass war die beste Hinrigtung, die i immer gesehe habe.“

Wo kommt der den auf einmal her?, dachte Lele.

„Da muss ich dir recht geben, mein Freund“, sagte Franco. „Eine perfekte Hinrichtung, hat wie am Schnürchen geklappt.“

Und wo bitte kommt der jetzt her?

„Am Schnürchen…. haha“, lachte Toni.

„Sagt mal seit ihr noch ganz gescheit?!“, schrie Lele. „Der Plan war sie zu befreien. Und jetzt haben Fynn und Jarkko sie gehängt.“

„No, no… gehängte hat sie Topa.“

„Hä? Was?“

„Der Henker, das war Topa“, sprang Franco ein.

„Oh ja. Bravo, bravo Topa. Für seine erste mal, va bene, gute gemagt.“

Das war zu viel für Lele. „Was redet ihr da für einen Mist?“ Ihre Stimme überschlug sich. „Ihr wollt mir erzählen, dass die drei Jytte gehängt haben?!“, kreischte sie.

„Si“, drang es doppelt an ihr Ohr.

„Und wie kommt ihr eigentlich hier rein?“

„Da hinten ist ein Brett lose, das lässt sich anheben und man kann bequem durchschlüpfen.“

„Na toll.“ Langsam wurde Lele klar, dass hier jeder mehr wusste als sie. „Und wie gedenken die Herren hier raus zukommen? Etwas auf dem gleichen Weg?“

Franco ging zu den Scheunentor. Er entfernte mehrere Stifte aus Holz. Außern fielen die Griffe und mit Ihnen die Kette zu Boden. Franco öffnete die beide Flügel, verneigte sich in der selben Bewegung vor Lele.

„Hier entlang“, sagte er.

„Avanti“, kam es vom Schlitten. „Wir musse los.“

Die Rückfahrt ins Weihnachtsdorf verlief ohne Zwischenfälle. Wie auf der Hinfahrt wechselten sie sich beim Fahren ab und gönnten den Rentieren nur kurze Pausen. Die beiden Italiener machten beim reden noch weniger Pausen als die Rentiere. Lele hatte beschlossen, Ihnen nicht zu zuhören. Zum einen, weil sie gar nicht in der Lage dazu war, zum anderen weil sie die Sprache nicht verstand. Ihre Gedanken wechselten genauso oft die Richtung, wie sich ihre Stimmung änderte. Als Franco sie zum zweiten Mal beim Lenken des Schlittens ablöste, war sie so kaputt, dass sie einschlief.

Sie wachte erst wieder auf, als Franco sie fest an der Schulter packte und schüttelte.

„Hey, wach auf.“

„Was… was ist los?“

„Schlechte geträumt?“, fragte er.

Lele nickte. „Da waren Topa, Fynn und Jarkko. Ihre Gesichter waren grotesk verzerrt. Dann haben sie mich gehängt. Es sah genauso aus, wie auf dem Hof von Opa Kester. Nur der Bürgermeister und sein Gefolge waren nicht da. Dafür Jytte und der andere Gefangene. Sie haben gelacht und geklascht.“

„Na, du lebst ja noch“, grinste Franco. Aber die anderen beiden, dachte Lele. Die sind tot. War sie schuld an ihrem Tot? Sie war zwar gegen eine Rettung von Jytte gewesen, aber so einen grausamen Tot hätte sie ihr nicht gewünscht.

Die Rätsel in ihrem Kopf wurden nicht weniger. Auch nicht, als die Lichter von Livdröm vor Ihnen auftauchten.

22/2020 Nichts ist wie es scheint

Lele hielt die Luft an. Der Hauptmann streckte die Hand aus und zog an der Kette. Die Kette klirrte und das Schloss schlug gegen die Tür. Lele nutze den Krach für einen schnelle Atemzug.

Jetzt packten die großen Hände des Hauptmanns die beiden Torflügel. Er zog kräftig an den Griffen und die Tore begannen sich zu öffnen. Lele schloss die Augen. Nach wenigen Zentimetern hielt die Kette die beiden Tore fest. Zufrieden drehte sich der Hauptmann um und nickte dem Bürgermeister zu.

Beim nächsten Knall blieb der Hauptmann stehen und suchte den Himmel nach dem Uhu ab, der nun dreimal seinen einzigartigen Ruf ausstieß. Fynn und Jarkko nickten sich zu.

„Nun denn“, rief der Bürgermeister. „Lasst uns das Ganze schnell hinter uns bringen, meine Amtsgeschäfte dulden keinen weiteren Aufschub.“

Die Wachen hoben den Gefangenen vom Schlitten. Die Fusfesseln liesen auf dem Weg zum Henker nur kleine Schritte zu. Er watschelte mehr als er ging. Diese letzte Demütigung nahm er kaum war.

Die beiden Henkersgehilfen Jarkko und Fynn hoben den Mann auf den Schlitten und stellten ihn unter den Balken.

Der Henker zog ihm eine Kapuze über und legte umständlich den Strick um den Hals. Den Wachen war der Blick auf den Gefangenen versperrt.

„He da“, rief deswegen der Hautmann. „Was macht ihr da so lange?“

Der Henker hob sie Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Dann band der das Ende des Seils um einen Knauf am Schlitten.

Die beiden Knechte stiegen vom Schlitten und führten die Rentiere langsam ein paar Schritte nach vorne. Der Gefangene hing in der Luft. Zuerst ganz ruhig. Dann begann er leicht hin und her zu schaukeln. Schließlich zuckte der Mann einige Male. Dann hing er leblos und ruhig zu Beginn in der Luft. Die Gehilfen führten die Rentieren zurück und der Leichnahm kam auf dem Schlitten zu liegen. Der Henker bückte sich, fummelte an dem Leiche herum, hob den Arm und senkte den Daumen.

Lele hatte das alles beobachtet. Sie hatte sich ein Abenteuer gewünscht. Aber dass sie jetzt zusehen musste, wie Jarkko und Fynn den Mann – und jetzt auch noch Jytte? – kaltblütig ermordeten, wurde ihr schwindelig. Was hatte Fynn denn dann gemeint mit ‚Gewalt ist keine Lösung‘? Und wer war dieser Henker?

Sie blickte wieder auf den Hof und sah, wie Jytte von den Gehilfen auf den Schlitten gehoben wurde. Wieder trat der Henker vor sein Opfer, versperrte mit seinem Rücken den Blick der Wachen und fummelte auffallend lang an der Kapuze und dem Strick herum. Nachdem er kurz vor dem Opfer kniete erhob sich der Henker, strich den Umhang, oder besser den Sack, in den man Jytte gesteckt hatte glatt und gab den beiden Gehilfen ein Zeichen.

Die Rentiere setzten sich in Bewegung, der Strick spannte sich und kurz darauf schwebte Jytte in der Luft. Lele konnte den Blick nicht abwenden. Sie mochte Jytte nicht, aber mit ansehen zu müssen wie sie gehängt wurde war zu viel. Trotzdem musste einfach zusehen.

Jytte begann jetzt, wie der Mann vor ihr, zu zucken. In ihrem Schoss bildete sich ein nasser Fleck.

Dann war sie tot. Und Lele musste sich übergeben.

Sie brauchte eine Weile, um sich wieder zu erholen. Als sie den Blick wieder auf den Hof richtete sah sie den Bürgermeister bei Fynn und Jarkko stehen. Doch sie konnte nicht hören, was die drei besprachen. Aus ihrer Position konnte sie jedoch beobachten, wie der Bürgermeister Fynn einen kleinen Lederbeutel übergab. Hatte der Bürgermeister etwa Fynn bestochen?

Der Bürgermeister warf noch einen Blick auf die Leichen auf der Transportfläche des Schlittens. Dann verließ er mit seinem Gefolge den Hof. Fynn und Jarkko taten es ihm gleich, fuhren jedoch in die entgegengesetzte Richtung davon.

Lele war alleine. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie in dem Schuppen eingesperrt war.

21/2020 Spiel auf Zeit

Ein lauter Knall peitschte durch die Morgendämmerung. Es hörte sich an, als ob zwei Bretter gegeneinander geschlagen werden. Danach heulte ein Uhu zweimal. Fynn und Jarkko nickten zufrieden. Lele wachte von dem Knall auf. Sie brauchte ein wenig, um zu merken wo sie war. Obwohl sie niemand sehen konnte, war es ihr peinlich, eingeschlafen zu sein.

„So ein lächerlicher Auftrag und ich schlafe ein“, murmelte sie sich selbst zu.

Durch das herumsitzen begann sie langsam zu frieren. Gerade wollte sie sich etwas in dem Schuppen umsehen, als ein Schlitten in den Hof fuhr. Lele eilte leise zur Tür und blickte durch einen Spalt zwischen zwei Brettern hinaus.

In dem Moment ertönte wieder der Knall und ein Uhu war zweimal zu hören.

Lele erblickte Fynn und Jarkko. Sie hatten den Schlitten unter einem Dachbalken der Bauernhütte geparkt. An dem Balken hing ein dickes Seil mit einer Schlinge. Daneben stand eine Gestalt mit Maske über dem Gesicht und einem weiten Umhang.

Ihnen gegenüber stand ein weiterer Schlitten. Darauf saßen sechs Männer, fünf Soldaten und ein Zivilist in sehr teuren Kleidern. Ein weiterer Schlitten hielt in der Durchfahrt zwischen zwei Schuppen. Darauf saßen weitere sechs Wachen und zwei Gefangene. Eine davon war Jytte.

Der Mann mit den teuren Kleidern stieg von seinem Schlitten und ging mit langsamen Schritten auf Fynn und Jarkko zu. Die stiegen beide ebenfalls von ihrem Schlitten und gingen auf den Mann zu.

„Guten Morgen, Herr Bürgermeister“, grüßte Fynn.

„Ist das euer Henker?“

„So ist es.“

„Ist alles vorbereitet?“

Fynn nickte. „Auf Ihrer Seite auch?“, fragte er dann.

Der Bürgermeister nickte ebenfalls. „Ihr werdet sicher verstehen, dass wir zur Sicherheit den gesamten Hof durchsuchen müssen. Schließlich könnten sich hier Gestalten verstecken, mit denen niemand rechnet und zusätzliche Zeugen können wir nicht gebrauchen.“

„Seit versichert“, sagte Fynn, „wir haben das schon erledigt und waren sehr gründlich.“

Knall. Uhu.

„Ich danke euch für eure Umsichtigkeit. Jedoch fürchte ich, dass meine Wachen misstrauisch werden könnten, wenn ich euch allzu sehr vertraue.“

„Gewiss“, sagte Fynn. Auch wenn er mit dieser Aktion gerechnet hatte, wurde er jetzt doch etwas unruhig.

„Durchsucht ihr die Bauernhütte, wir warten hier solange. Die Schuppen sind fest verschlossen, wir haben die Ketten und die Schlösser bereits überprüft.“

Der Bürgermeister winkte den Hauptmann der Wachen heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Fynn wurde den Eindruck nicht los, dass das viel zu lange dauerte.

Der Hauptmann ging auffallend langsam zurück zu den Wachen. Fynn konnte nicht verstehen, was er sagte. Seine Stimme wurde durch eine weitere Abfolge von Knall und den Rufen eines Uhus überdeckt.

Ein paar der Wachen machten sich daran, die Bauernhütte zu durchsuchen. Lele kam es so vor, als ob sich alle merklich langsam bewegten. Die Wachen hatten nicht den gewohnten militärischen Gang, ebenso wenig der Hauptmann. Auch der Bürgermeister bewegte sich irgendwie langsam. Nur Fynn und Jarkko schienen von dieser Langsamkeit nicht betroffen zu sein.

Langsam und nach einander kehrten die Wachen aus der Hütte zurück. Jede schüttelte den Kopf uns postierte sich dann neben dem Schlitten.

Bretter schlugen aneinander und ein Uhu gurrte zweimal.

Lele saß, wie der Hauptmann auf den ersten Schuppen zuging. Er rüttelte am Schloss und an der Kette. Dann zog er kräftig an der Tür. Doch die Kette hielt die Tür verschlossen und er ging zum nächsten Schuppen. Das gleiche Spiel am zweiten Schuppen.

Lele erschrak, als der Hauptmann geradewegs auf sie zuging. Schlagartig war die Langeweile verflogen und durch Panik ersetzt worden. Der Hauptmann stand, nur durch ein paar Bretter von ihr getrennt, vor ihr und streckte die Hand aus. Wenn er sie entdeckte, war alles verloren.

20/2020 Mitten in der Nacht

Lele war kaum eingeschlafen, da wurde sie auch schon wieder geweckt.

„Hey, steh auf, ihr müsst los“, sagte Jarkko.

Neben ihr war Topa schon fast damit fertig, seine Decken und Felle zu verpacken und auf den Schlitten zu laden. Sie richtete sich auf und sah sich um. Die anderen hatten ihre Schlafplätze längst geräumt und verstaut. Franco kochte Kaffee und Toni kaute auf einem Stück Brot. Als sie auch ihre Felle und Decken verstaut hatte, setzte sie sich zu den anderen ans Feuer. Topa reichte ihr eine Tasse Kaffee und ein Stück Brot.

„So sieht der Plan aus“, begann Fynn. „Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Die erste Gruppe – Toni, Lele und Franco – bleibt im Verborgenen. Ihr sichert uns ab und greift nur ein, wenn ich euch ein Zeichen dazu gebe. Franco hat das Kommando, er wird euch sagen was zu tun ist.“

Fynn deutete ihr Schweigen als Zustimmung.

„Die zweite Gruppe – Topa, Jarkko und ich – wir befreien Jytte. Jeder hält sich strikt an den Plan, keine Alleingänge und Planänderungen nur auf mein, für die erste Gruppe auf Francos, Zeichen. Alle klar?“

Wieder sagte keiner etwas.

„Dann los!“, sagte Fynn. „Nehmt euch genügend Proviant mit, selbst wenn alles gut geht werden wir keine Pause haben, bis wir wieder sicher im Weihnachtsdorf angekommen sind. Und nehmt euch etwas Glut mit.“

Sie öffneten ihre Tongefäße, Fynn löffelte etwas Glut hinein, verschlossen die Gefäße wieder fest und steckten sie in ihre Taschen. So konnten Sie bei Bedarf schnell ein Feuer entzünden. Viel wichtiger war aber, dass sie sich die Hände damit wärmen konnten.

Franco lies sich von Lele in die Nähe des Westtores der Stadt bringen. Das Tor war noch geschlossen, eine Wache lehnte im Halbschlaf sichtlich schief daran.

„Du fährst mit Toni zu dem alten Hof von Opa Kester. Dort stellst du den Schlitten hinter die Bauernhütte. Die Rentiere spannst du an den Schlitten, den du in dem Schuppen gefunden hast. Versichere dich, dass er auch zu gebrauchen ist. Dann warte, bis wir dich rufen. Aber sei jederzeit bereit.“

„Mehr soll ich nicht machen? Rumsitzen und warten?“

„Ay. Und jetzt los!“ befahl er und kletterte auf einen Baum.

Widerwillig fuhr Lele los. Toni und sie sprachen keine Wort. Auf dem Hof angekommen tat sie was Franco ihr aufgetragen hatte. Toni nahm seine Armbrust, ein Fell und eine Decke.

„Was willst du damit?“, fragte Lele.

„Ih suche mir ein schöne Plätzchen auf die Dach oben. Und wenn was nix so läuft wie geplant, ich schieße schnell und gute“ sprach er und verschwand. Sie und Toni sollten also nur aufpassen und im Notfall eingreifen. Statisten, die Fynn wie Schachfiguren hin und her schob. Deswegen war sie nicht mit gekommen. Und was zum Henker machte Franco auf einem Baum vor der Stadt?

Als Fynn, Jarkko und Topa mit den beiden Rentieren auf dem Hof eintrafen, fanden sie alles so vor, wie geplant. Topa spannte die Rentiere vor den Schlitten, Fynn und Jarkko errichteten an einem Dachbalken der Bauernhütte einen provisorischen Galgen. Als sie damit fertig waren, kletterten die ersten Lichtstrahlen schüchtern den Horizont hinauf.

Topa zog sich eine Kapuze mit Sehschlitzen über den Kopf. Dann warteten sie darauf, Jytte hinzurichten.

Zur gleichen Zeit öffnete sich das Westtor der Stadt. Franco zählte mit. Drei Schlitten und ein Dutzend Männer in der Uniform der Stadtwache. Dazu zwei Gefangene und eine Zivilperson. Das musste der Bürgermeister sein. Die Gegner waren also dreifach in der Überzahl. Beruhigt machte er sich an den nächsten Teil seiner Aufgabe. Mit so wenig Gegnern sollte das ein Kinderspiel werden.

19/2020 Vor der Entscheidung

„Na?“, fragte Fynn Toni auf dem Rückweg ins Lager. „Sollen wir dich hier lassen und ihr zwei heiratet oder nimmst du sie mit zurück nach Italien?“

„Che cazzo dici! Der da iste schuld an diese porca misera.“

„Ich?“, fragte Jarkko unschuldig. „Ich sollte nur ein Gespräch mit dem Bürgermeister vereinbaren.“

„Aber du haste nix geschafft. Ohne mi, Toni, deine Hände sinde wie eine Flasche leer.“

Im Lager empfingen sie fragende Blicke. Doch Fynn zog es vor, nicht alle Karten auf den Tisch zu legen.

„Ich denke, wir haben eine gute Chance, Jytte zu befreien ohne dabei mehr Risiko als notwendig einzugehen. Doch dafür muss jeder seine Aufgabe erfüllen. Keiner darf von dem Plan abweichen, egal was passiert. Ihr werdet nur soviel wissen, wie ihr für eure Aufgabe benötigt.“

„Aber wenn wir ganz in deinen Plan eingeweiht wären, könnten wir dir noch besser helfen, wenn etwas schief läuft.“ Wieder war es Lele, die ihr Unzufriedenheit nicht für sich behalten konnte.

„Jarkko und Franco“, sagte Fynn. „Ihr geht Jagen, wir brauchen noch ein paar Vorräte mehr. Kontrolliert auch die Falle die ich Jarkko neulich gezeigt habe.“

Die beiden nickten und verschwanden im Wald.

„Lele, du kommst mit mir.“ Er packte sie fester als er wollte am Arm und zog sie aus dem Lager.

Um die Stimmung zu retten, erzählte Toni ein paar Geschichten aus seiner Heimat. Nach einer Weile kehrte Lele alleine ins Lager zurück.

„Wo iste Fynn?“, fragte Toni.

„Der Capitano hat noch zu tun. Dazu braucht er seine Lakaien nicht.“ Dann starrte sie ein Loch in das Lagerfeuer.

Fynn traf Franco und Jarkko wie verabredet bei der Hasenfalle.

„Du hast meinen Hinweis also verstanden.“

„Was ist dein Plan?“, wollte Jarkko wissen. Fynn erzählte, was er sich ausgedacht hatte.

„Dazu sind wir ein Mann zu wenig“, sagte Franco. „Wenn Opa Kester und Cieli alleine vorausfahren, hätten wie noch einen Mann mehr.“

„Und uns fehlt ein Schlitten“, ergänzte Jarkko. „Trotzdem ist diese Variante die sicherste und die mit den meisten Erfolgsaussichten.“

„Dann seit ihr dabei?“

„Si, Capitano“, bekam er eine doppelte Antwort.

Zurück im Lager rief Fynn alle zusammen.

„Der Plan steht fest. Was uns noch fehlt, ist ein dritter Schlitten.“

„In der Scheune auf Opa Kesters altem Hof steht noch einer“, sagte Lele und versuchte dabei möglichst gelangweilt zu klingen.

„Wie groß ist der?“

„Eher mittelgroß, warum?“

„Kann ein Rentier ihn alleine ziehen?“

„Das wird dann aber ziemlich langsam voran kommen.“

„Dann brechen Opa Kester und Cieli heute noch auf, am besten jetzt gleich. Ihr nehmt einen Schlitten und ein Rentier. Es wird euch den Weg ins Weihnachtsdorf zeigen.“ Dann wandte er sich an Lele: „Du bringst Franco, Toni und die Rentiere zu Opa Kesters altem Hof. Franco wird dir sagen, was zu tun ist. Dann wartest du auf mein Zeichen. Deine Aufgabe ist es, Franco und Toni einzusammeln, wenn alles vorbei ist und euch in Sicherheit zu bringen. Ihr fahrt zuerst nach Westen. Dann schlagt ihr den Weg zum Weihnachtsdorf ein. Reist schnell und unauffällig. Wir treffen uns alle auf Livdröm.“

Sie verabschiedeten Cieli, die kleine Nilla und Opa Kester.

„Jetzt esst“, befahl Fynn. „Dann packt eure Sachen. Nehmt nur mit, was ihr wirklich braucht. Der Rest bleibt hier. Dann legt euch hin. Wir brechen kurz nach Mitternacht auf.“

18/2020 Maj-Lis

Am nächsten Morgen überprüfte Fynn mit Franco die Ausrüstung und die Waffen.

„Was haben wir?“, fragte Fynn.

„Wir haben Kurzwaffen, Messer, je zwei kleine Kampfäxte und Speere, Seile, Pfeil und Bogen und Toni hat seine Armbrust.“

„Kannst du mit Pfeil und Bogen umgehen?“

„Si, Capitano.“

„Das muss reichen. Ich gehe mit Toni und Jarkko zum Bürgermeister. Behalte du die anderen etwas im Auge; vor Allem Lele. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie nicht doch auf eigene Faust loszieht.“

„Si, Capitano.“

„Wenn wir bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht zurück sind, stecken wir in Schwierigkeiten. Dann musst du uns rausholen. Topa ist kein Kämpfer, aber du kannst ihn für Ablenkungsmanöver einsetzen. Lele kann einen Schlitten fahren wie kaum sonst jemand.“

„Si, Capitano.“

„Lass bitte das Capitano. Fynn reicht völlig. Ich bin froh, dich dabei zu haben.“

„Ay“, grinste Franco stolz.

Gegen Mittag machte das Trio sich auf in die Stadt.

„Wie ist dein Pan?“, wollte Jarkko wissen.

„Wir müssen rausfinden, was der Bürgermeister dringend braucht. Vor allem will ich wissen, ob er einen eigenen Henker hat oder dafür jemanden kommen lässt.“

„Es gibte professionelle Carnefice?“

„Ja. Solche Leute sind nicht sehr beliebt bei der Bevölkerung, schon gar nicht, wenn sie die eigenen Bürger hängen. Also holt man sich eine Henker von außerhalb. Mit Maske erkennt ihn niemand.“

„Accidenti! Und du kennst so eine Carnefice?“

„Ay“, sagte Fynn. „Wenn wir zurück sind wartet er schon im Lager auf uns, hoffe ich.“

Sie betraten das Vorzimmer des Bürgermeisters. Toni bezirzte die Sekretärin, während Fynn und Jarkko mit dem Bürgermeister sprachen.

Während Fynn den Händler spielte, wurde er Vater.

Paola übernachtete seit der Abreise von Fynn auf Livdröm. Oma Lerke hielt es für zu riskant, Paola allein ein ihrer Hütte zu lassen. Die Schwangerschaft verlief bis jetzt ohne dass sie sich hätte Sorgen machen müssen. Trotzdem hatte sie Paola Ruhe verordnet. Die hielt sich natürlich nicht daran. Paola half wo sie nur konnte im Haushalt und mit den Kindern, damit Boje und Vendela sich um den Hof kümmern konnten. Ihre Lieblingsbeschäftigung war, den Zwillingen Elin und Keld das Backen bei zubringen.

Heute morgen hatte Paola wieder Wehen gehabt. Laut Oma Lerke handelte es sich dabei nicht um Schwangerschaftswehen. Umgehend wurde eine Stube zur Geburtsstube umfunktioniert. Oma Lerke schickte einen der Wichtel ins Dorf, um die Hebamme zu holen.

Als diese endlich eintraf, hatte Paola bereits heftige Wehen. Oma Lerke ging der Hebamme zur Hand, Vendela stand ihrer Freundin mit ihrer eigenen Erfahrung und als seelische Unterstützung bei.

Boje lenkte derweil die Zwillinge ab. Sie durften im Stall die Tiere füttern.

Als eine Weile lang keine Schreie und Geräusche mehr aus der Wohnhütte zu hören waren, steckte er vorsichtig den Kopf durch die Haustüre.

„Kommt ruhig rein“, sagte die Hebamme. „Es ist alles gut verlaufen, Mutter und Kind sind wohlauf.“

Sie betraten die Stube in der Paola lag. Boje hob die Zwillinge hoch, damit sie das Baby in Paolas Armen sehen konnten.“

„Baby“, sagte Elin.

„Baby“, plapperte Keld nach.

„Darf ich vorstellen: Meine Tochter“, sagte Paola.

„Habt ihr schon einen Namen ausgesucht?“, fragte Vendela.
„Maj-Lis. Sie soll Maj-Lis heißen, im Gendenken an meine und Topas Mama.“

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Twins: Alles Gute zum Geburtstag!

17/2020 Der Plan

Nach dem Essen kümmerte sich Cieli um die kleine Nilla. Die anderen saßen am Feuer und erzählten reihum, was sie in der Stadt in Erfahrung gebracht haben.

„Vielleicht das wichtigste zu erst“, begann Jarkko. „Toni hat es geschafft, für Morgen Mittag ein Gespräch mit dem Bürgermeister zu ergattern.“ Das wie lies er weg.

„Militärisch sind die Stadt und die Wachen keine Herausforderung“, übernahm Fynn. „Wir werden also auf keinen nennenswerten Widerstand stoßen. Für gewöhnlich finden Hinrichtungen innerhalb der Stadtmauern und öffentlich statt. Wir müssen also schnell sein, bevor die Zuschauer kapieren, was passiert.“ Fynn nickte Lele zu.

„Der große Marktplatz ist das Zentrum der Stadt. Dort ist auch das Rathaus und alle wichtigen Stände haben dort ihren Sitz. Die Hinrichtungen finden auf einem kleineren Platz etwas abseits statt. Von dort ist es nicht weit bis zum Nordtor der Stadt. Ein idealer Fluchtweg also. Der Bürgermeister ist erst seit zwei Sommern im Amt. Seinen Vorgänger haben sie aus der Stadt gejagt, weil er die einst blühende Stadt herunter gewirtschaftet hat. Der neue Bürgermeister hat es bis jetzt geschafft, den Niedergang zu stoppen und den Handel wieder etwas zu beleben. Insgesamt stehen ihm die Bewohner neutral gegen über.“

„Danke, Lele“, sagte Fynn.

„Wenn es wieder aufwärts geht mit der Stadt, warum ist er dann nicht beliebter?“, fragte Topa.

„Was ihr vielleicht nicht wisst:“, mischte sich Opa Kester ein, „mit dem neuen Bürgermeister kamen auch ein paar neue Händler in die Stadt. Und mit Ihnen auch eine handvoll finstere Burschen. Offiziell sind sie Mitarbeiter der Händler und sorgen für die Sicherheit der Warentransporte. Der Volksmund denkt anders von Ihnen und fürchtet sie.“

„Auch einige der Wachen und den Hauptmann hat der neue Bürgermeister gegen Fremde ausgetauscht“, ergänzte Lele. „Die führen ein strenges Regiment. Es gibt mehr Strafen, mehr Verhaftungen und auch mehr Hinrichtungen.“

„Das erklärt einiges“, sagte Jarkko.

„Das beste kommt zum Schluss: Der Bürgermeister ist auch der Richter.“

„Und er hat meinen Hof gekauft.“

Alle blickten Opa Kester erstaunt an.

„Dann habe ich mich also doch nicht getäuscht“, sagte Toap. „Mir ist in der Stadt ein Mann aufgefallen, der einem der Männer ähnlich sieht, die euch damals überfallen haben.“

„Er sieht ihm nicht nur ähnlich, er ist einer von Ihnen“, bestätigte der alte Mann.

„Aber er war gekleidet wie ein Händler. Wie ein ziemlich reicher Händler sogar.“

„Zum gleichen Zeitpunkt, als dieser angebliche Händler mit seinen beiden Handlangern in der Stadt ankam, verschwand ein alteingesessener Händler. Angeblich hat er sich im Süden zur Ruhe gesetzt und sein Geschäft verkauft. Ich kannte diesen Händler, er hätte nie freiwillig die Stadt verlassen.“

„Dann gibt es wirklich eine Leiche, wegen derer man Jytte verhaftet hat?“, fragte Topa.

„Es sieht so aus“, antwortete Jarkko. „Und nach ein oder zwei Sommern im Freien ist der Leichnam so stark verwest, dass ihn niemand mehr erkennt.“

„Das Ganze ist von langer Hand geplant?“, fragte Lele erstaunt.

„Das denke ich auch. Mit der Hinrichtung von Jytte beseitigt der Bürgermeister mögliche Zeugen. Was denkt ihr?“

Alle nickten zustimmend.

„Wir haben es also mit einem gefährlichen Gegner zu tun, den wir nicht unterschätzen dürfen“, warnte Jarkko eindringlich.

„Dann gehen Jarkko, Toni und ich morgen zu dem Gespräch mit dem Bürgermeister. Ihr anderen bleibt im Lager“, sagte Fynn.

„Aber wir könnten euch helfen, wenn ihr in Schwierigkeiten kommt“, sagte Lele etwas bockig.

„Wir dürfen nicht riskieren, dass ihr in der Stadt erkannt werdet. Wenn Topa den Mann erkannt hat, kann das genauso umgekehrt der Fall sein. Du hast heute genug Männern den Kopf verdreht, dich erkennen sie also auf jeden Fall. Franco ist der einzige, der unerkannt in die Stadt gehen kann, sollte uns etwas passieren. Die Entscheidung steht fest. Ab sofort verlasst ihr das Lager nur, wenn ich es euch sage!“

16/2020 Schritt für Schritt

„Ich fürchte, da wird sich nicht viel machen lassen. Wenn dann können Sie nur ganz kurz Vorsprechen. Aber selbst das wird schwer.“

„Unser Herr hofft sehr, dass die gemeinsamen Geschäfte zum Vorteil aller sein werden.“

„Für Geschäfte ist der Kämmerer zuständig. Links den Gang runter, zweite Tür links.“

„Ich fürchte, unser Herr wird darauf bestehen, die Bedingungen mit dem Bürgermeister höchst persönlich zu verhandeln.“

„Ich fürchte, da werden Sie auf ihrem Rückweg noch einmal vorbeikommen müssen“, blieb die Dame hartnäckig.

„Können wir denn irgendetwas tun, damit der Herr Bürgermeister doch noch die Möglichkeit für ein Gespräch findet?“, fragte Fynn während er ein paar Münzen in seiner Tasche klimpern lies.

Das Kunstwerk dachte sichtlich nach. Geld, dachte Jarkko triumphierend, öffnet doch am Ende jede Tür.

„Nein, da lässt sich nichts machen. Der Bürgermeister hat alle Hände voll zu tun, die Amtsgeschäfte nach Recht und Ordnung zu führen. Wir sind ein ehrenwertes Rathaus.“

„Scusi, Senora“, mischte sich Toni nun in das Gespräch ein. „Vielleicht, wir finde eine Möglichkeit, zu spräche unter vier Auge. Sie habe so schöne Auge.“

„Jarkko glaubte, hinter dem Puder eine leichten, rötlichen Farbton im Gesicht der Sekretärin zu erkennen.

„Sie? Ich?“, stammelte das Kunstwerk. „Was glauben Sie denn, wen Sie vor sich haben?“

„No, no Signora. Ich will sage, wir spreche solange über Sie, während unsere Capitano mit dem Maestro spreche, si?“

„Über mich?“

„Si, Signora. Sie musse mir alles erzähle über Sie. Bella Donna, ihre Kleidung, die Schmuck und die Haare. Mama mia, dies Haare. Ih habe no nix so ewtas gesähe. Das iste keine Mode, das iste eine opera d`arte. Eine Kunstewärk.“

„Wirklich?“ Das Kunstwerk hatte nun eindeutig die Farbe gewechselt.

„Assolutamente! Ih kenne mi aus mit Mode und Kunst. Ih bin Toni, ih komme aus Italia. In Italia, wir habe Mode und Stil im Blut. Sei uno Splendore, come una regina.“

„Ich…. ich…äh.. ich heiße nicht Regina.“

„Wenn wir unse einig werde, Signora, ich bringe die beste Stoffe, reinste Seide, zu magge eine regina aus ihne, si? Sie sind eine l`ispirazione. Ih magge sie beruhmte, bella donna.“

Der Termin würde morgen nach dem Mittagessen stattfinden. Zufrieden verliesen die beiden das Rathaus.

„Die war so……“, sagte Jarkko.

„Bunt.“

„Stur.“

„Exorbitante.“

„Zu viel.“

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

„Du biste so still, weil ih die Gespräch klar gemaggd abe, si?“

„Ja“, gab ihm Jarkko die gewünschte Bestätigung. „Wie eine Puttana“, fuhr er fort und streckte ihm die Faust entgegen.

Toni schlug ein. Er hatte verstanden.

Zurück im Lager warteten bereits Topa mit Opa Kester und der kleinen Nilla, sowie Cieli und Franco. Gerade als das Abendessen fertig war, trafen auch Lele und Fynn ein.

15/2020 Hinter dem Nebel

„Maledetto! No!“

Eine schier unendliche Menge an Worten, Flüchen, Stoßgebeten und Verwünschungen ergoss sich über die kleine Gruppe. Ihre Quelle war Toni.

„Was hast du?“, fragte Lele die scheinbar der Auslöser für dieses Schauspiel war.

„Madonna! Was bist du? Du siehste aus wie eine Puttana.“

„Dann können wir ja los“, feixte Jarkko.

„Pezzo di merda! Du kannste doh nix……“, er brach mitten im Satz ab und wandte sich an Topa.

„Topa, mio fratello“ flehte er. „Wir sind Brüder. Du biste einverstande, dass deine Frau eine Puttana ist?“

„Ich bin nicht seine Frau.“

„Ich bin mit was einverstanden?“

„Jetzt beruhige dich, Toni“, griff Fynn ein. „Wir brauchen Informationen. Und was ich nicht mit Geld herausfinden kann, wird Lele mit ein wenig flirten den Jungs entlocken.“

„In nessun caso. Auf keine Fall. Hier wirde gar nix gelockt. Da kommt irgendeine Stronzo, grapscht an ihre Popo und was weiße ich sonst noch….“

„Ich werde die ganze Zeit dabei sein“, sagte Fynn. „Niemand wird ihr etwas tun.“

Toni beruhigte sich langsam wieder und die einzelnen Pärchen machten sich an ihre Aufgaben.

Fynn und Lele zogen durch die Gaststuben der Stadt. Fynn war froh, dass Toni nicht dabei war, so gut spielte sie ihre Rolle. Als sie wieder einmal die Gaststube wechselte, sahen sie Toni. Knapp hinter ihm lief Opa Kester, die kleine Nilla an der Hand.

Jarkko und Toni waren auf dem Weg ins Rathaus. Keine Wachen am Eingang, registrierte Jarkko still. Sie betraten die Eingangshalle. Hinter einem Tisch saß ein Beamter, in einer Ecke saß gelangweilt eine Wache.

„Guten Tag mein Herr“, begann Jarkko das Gespräch.

Der Beamte schaffte es mit Mühe, wenigstens die Augen in Richtung der beiden Besucher zu richten. Die Wache blieb genauso regungs- wie teilnahmslos sitzen.

„Wir sind Händler. Unser Herr wünscht einen Termin beim Bürgermeister.“

„Bürgermeister? Da müssen Sie die Treppe hoch, dann den Gang rinter und an der Tür klopfen.“

„An welcher Tür, Herr?“

„Na an der wo Bürgermeister dran steht.“ Dann senkte der Beamte wieder Kopf und Blick und erstarre in der Position, in der sie ihn vorgefunden hatten.

Sie stiegen die Treppe hinauf, fanden die Tür mit der Aufschrift Bürgermeister und traten ein, nachdem sie auf ihr Klopfen hin dazu aufgefordert worden waren.

„Mama mia“, entfuhr es Toni leise.

Die Sekretärin des Bürgermeisters war ein Kunstwerk. Jarkko erinnerte sich an ein Zitat: In der Kunst ist Alles erlaubt und Alles Geschmackssache. Wie wahr, dachte er.

„Jetzt gleich?“, fragte das Kunstwerk nachdem Jarkko um einen Termin beim Bürgermeister gebeten hatte.

„Hätte der Herr Bürgermeister denn jetzt gleich die Möglichkeit uns zu empfangen?“

„Äh…. natürlich nicht.“ Nach einer kurzen Pause wurde aus dem Kunstwerk eine Vorzimmerdame, die jedes Klischee erfüllte:

„Der Herr Bürgermeister hat eine große Verantwortung für die Stadt und unzählige Aufgaben. Da kann nicht einfach jeder Vorsprechen wie er lustig ist“ sprach es schnippisch.

„Natürlich“, sagte Jarkko so unterwürfig wie nötig. „Unsere Geschäfte erlauben es uns leider nur wenige Tage – maximal zwei – in ihrer schönen Stadt zu verweilen.“

„Zwei Tage? Da muss ich sehen, ob sich da was einrichten lässt.“

Die Dame blickte angestrengt auf ein Blatt Papier auf ihrem Tisch.